vonLeisz Shernhart 27.02.2024

Poetik des Postfaktischen

Zu viel Form für zu wenig Inhalt: Zur Rolle des Kulturschaffenden in der postfaktischen Gesellschaft. Betrachtungen ohne abschließende Bewertung.

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Mutmaßlich sind Herr Bébé und seine Klasse dem Fehlglauben erlegen, alles müsse zwangsläufig etwas bedeuten. Die sträflich missachtete Mehrdimensionalität von Zeichen verengen diese Bengel womöglich sogar noch darauf, dass alles nur diese eine ganz bestimmte Sache zu bedeuten habe. Einer sehr bodenständigen Ästhetik folgend, die sie offensichtlich mit einer Art kultureller Muttermilch, homogenisiert zu höchst konventionellen Rezeptionsgewohnheiten, aufgesogen haben, gehen der Hirnheiland und seine Schüler davon aus, dass die Zunge, da sie nun einmal auf der Bühne präsent ist, zwingend etwas aussagen müsse. Grundlage dieses Postulats ist wohl eine Art antiquierte dramaturgische Bauernregel, die besagt, dass mit einem Gewehr, das im ersten Akt an der Wand hänge, spätestens im dritten Akt geschossen werden müsse. Andernfalls handle es sich um eine schlechte Inszenierung. Vor diesem volkstümlichen Hintergrund muss die enttäuschte Erwartungshaltung der Schulklasse verstanden werden. Nun ist das Bedürfnis nach Sinnsuche als Teil der Conditio Humana a priori höchst verständlich und grundsätzlich nachvollziehbar. Wo sich uns kein Sinn erschließt, versuchen wir unweigerlich, diesen zu konstruieren. Für den modernen Menschen, suchender denn je, strebt es geradezu gegen unerträglich, Sinnlosigkeit aushalten zu müssen.

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Camus hätte der Schülerin auf ihre Frage wohl geantwortet, die Zunge sei absurd, da der Mensch nach ihrem Sinn frage, diese jedoch vernunftwidrig schweige. Genauso absurd und sinnlos wie die Zunge ist im Übrigen die Tatsache an sich, dass wir auf einem von mutmaßlich mehreren Milliarden Himmelskörpern heute hier sitzen und über die Sinnhaftigkeit eines überdimensionierten Requisits auf einer Theaterbühne philosophieren. Es ist schwer zu erdulden, doch in der radikalen Pluralität der Postmoderne werden Zeichen und Sinn voneinander entkoppelt und das semiotische Dreieck dekonstruiert. Herr Bratis-Berger täte gut daran, seinen Schülerinnen und Schülern im Deutschunterricht etwas mehr kulturelle Frustrations- und Ambiguitätstoleranz zu vermitteln. Um es mit Brecht zu sagen: Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen, den Vorhang zu und alle Fragen offen. Denn diese eine Antwort auf hochkomplexe Fragen gibt es selten und manchmal bleibt eine Frage ihre Antwort auch gänzlich schuldig. Jeder, der schon einmal versucht hat, eine Kafka-Parabel abschließend zu deuten, sollte erahnen, wovon ich rede. Allerdings ist es fraglich, ob der Hirnheiland während seines Lehramtstudiums schon einmal ernsthaft die Lust verspürt hat, so etwas zu versuchen.

Fortsetzung folgt…

 

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