vonPhilipp Rhensius 15.12.2022

Reality Glitch

Alltagsszenen anhalten, während sie passieren. Sie neu zusammensetzen. Mal poetisch, mal hyperreal, mal wtf!?

Mehr über diesen Blog

In San Francisco sagen sie nicht safe trip home zur Verabschiedung, sondern stay sane. Alle Komödien enden in Partnerschaft. Alle Tragödien im Gehirn. Sich überlagernde Szenen aus 60er Jahre-Filmen, Fotos, popkulturelle Fremderinnerungen.

Mein Hotel ist 1969 in einer Zeitschleife hängen geblieben und macht aus seiner Patina ein Geschäft. Auf Google kursieren Begriffe wie charmant und ehrwürdig. Genau dieselben Begriffe wie in der Selbstbeschreibung auf der Webseite. Auch ich erliege der Hypnose. Ich ergebe mich dem dunkelbraunen Holz, den karoförmigen Fließen im Badezimmer am Ende des Flures, den alten Fotos und Karten und der eingerahmten Zeitungsanzeige von 1943 aus dem SF Chronicle, der titelt: Don’t come to SF!. Begründung: die Stadt sei von Soldaten und schwerem Kriegsgerät.

Meine Oma mütterlicherseits schwebt über mir und sieht mir dabei zu.

Später sitze ich exakt an dem Ort, an dem Allen Ginsberg „Howl“ schrieb und versuche, seinen Geist in der Runde von Senior*innen zu entdecken, die sich unablässig Geschichten erzählen. Es sind Anwohner und es ist ihr Stammcafe. Ein Mann fragt eine Passantin: „Sie kommen von der East Coast, oder?“ Die Frau, Mitte 70, wunderschöne weiße Haare, Gehstock und hipper Lederrucksack, sagt:“ Nein nein, ich lebe hier. Komisch, das fragen mich immer alle.“ „Naja, sie sind sehr direkt und beginnen einfach so ein Gespräch.“ „Ich bin Schauspielerin“, sagt sie. „Haben sie mit berühmten Leuten gearbeitet?“

Aus dem Cafe tönt traditionelle italienische Musik. Eine lokale Mandoline Sextett probt in der dunklen Ecke. Es klingt schön, aber ich kann es nicht gut finden, weil ich nur die schrecklichen Compilations gewöhnt bin, die sonst in den Coffeeshops laufen. Die Kopie hat mir das Original versaut. Schade.

Am Tresen zeigt später der Kellner mit routinierter Langeweile auf das Schild: Only Cash.

Es ist seltsam. Während in San Francisco und Silicon Valley die Zukunft der Menschheit programmiert wird, verwaltet die Stadt seine eigene Vergangenheit.

Ich entdecke drei oder vier weiße Zahnpastaflecken auf meinem Lieblingspullover und murmle leise: „fuck“. Es sieht aus wie… Ich überlege, vielleicht ist es gut, dass es aussieht wie… vielleicht sind Flecken aber auch grundsätzlich gut. Es sind Erinnerungen, kleine Brüche in der verdächtigen Perfektion.

Spazieren im Park nahe des Strands. „No dogs allowed“, steht auf einem Schild. Ich verstoße gegen den Code 3.02 des US-Rechts. Ich bin ein verdammter Coyote. Ich schnüffle überall herum, inspiziere die Vibes des Mission District und bleibe ratlos. Niemand hört mir zu, wenn ich belle. Die meisten verziehen nur ihre Gesichter und rennen weg. Manche schauen nicht mal auf. Wenige kommen, um mir über den Rücken zu streicheln, was ein bisschen schmerzt wegen des Sonnenbrandes. Perfides Klima Californian Style: Sonne saustark, Wind saukalt.

Drüben rollen sich Jugendliche die Wiese herunter. Sie tragen Bandanas und wirken selbstsicher wie ein Porsche in einer Einbahnstraße. Sie halten ihre Arme um ihre Hüften und rollen los, brüllen: „ohmygod, ohmygod“. Jetzt nimmt der letzte Anlauf und rollt los. Auch er schlägt an den Ellenbogen auf und lacht. Auch er streckt seine Arme nach oben und kommt leicht beduselt unten an. Doch es bleibt still. Dabei macht er das gleiche wie alle anderen, nur ein bisschen weniger publikumswirksam und emotionsnormativ. Er scheint ausgeschlossen von der Allgemeinheit.

In ganz San Francisco steht bei 1 von 3 Mützenträgern: California. Eine solche patriotische Selbstreferenzialität kenne ich sonst nur aus brandenburgischen Dörfern.

Ich beschließe, einen 3-Minuten Roman zu schreiben über was genau an diesem Ort auf der Erde vor 100 Jahren passiert ist.

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/reality-glitch/coyote-sein/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert