vonPhilipp Rhensius 20.05.2022

Reality Glitch

Alltagsszenen anhalten, während sie passieren. Sie neu zusammensetzen. Mal poetisch, mal hyperreal, mal wtf!?

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Hallo Bro, entschuldige bitte die provinzielle Ironie, aber ich wuchs auf unter Menschen, die mir ständig auf’s Maul hauen wollten, weil meine Frisur oder meine Art, zu sein, nicht ihren Vorstellungen entsprach. Ironie war eine der schnellsten Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme mit einer anderen Welt in einer ungerecht verteilten Wirklichkeit.

SUS.

Wieder mal ein apokalyptischer Regenguss in New York. Im Central Park kauen Dutzende von Eichhörnchen unter einem Baum auf Erdnüssen herum. Ein Mann mit knallweißen Sneakern hat dort eine ganze Tüte Nüsse entleert. Das Guggenheim Museum ist um die Ecke. Hin da. Online lassen sich kostenlose „affiliation tickets“ buchen und es wird – wie im MOMA – nicht mal nach einem Nachweis gefragt. Fast so easy, wie über die Absperrung in der Subway zu springen, wenn nicht gerade die NYPD dort herumlungert.

Nunja, ganz geile Ausstellung der britischen Künstlerin Gillian Wearing. Denken: Egal, was ich oder andere auch versuchen, mit ihrer Arbeit oder ihrer Kunst oder ihrem Leben, irgendjemand hat immer schon längst auf eine interessantere Weise die ZITAT Spannungen zwischen Selbst und Gesellschaft in einer immer mehr medial gesättigten Welt erforscht ZITAT ENDE. Meistens ist das ZITAT profunde, emphatisch und psychologisch intensiv und hinterfragt feste Ideen von Identität und die Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privat ZITAT Ende.

Zwischendurch lenkt Kandinsky die Leute davon ab, auf ihre Handys zu schauen, während ich dabei zuschaue, wie sie Kandinsky anschauen.

Danach gehe ich gehe an diesem See am Central Park vorbei und, keine Ahnung, eine Frau schaut mir dabei zu, wie ich diese Zeilen denke. Ich gehe in eine Kurve, um dem Suchfeld der Frau zu entkommen. Augen sind wie Kameras. Sie beschränken das gesehene aufs Sichtbare. Sind blind für Sound und Vibration. Augen sind süchtig nach Allgemeinheit, weil alles andere ihnen Angst macht.

Während ich das denke, joggt alle drei Sekunden jemand vorbei. Scheiße, es scheint, die halbe Stadt würde für den U. trainieren. Ich rufe den Joggenden zu: Was soll das? Weglaufen hilft nicht. Werft eure binäre Normativität aus dem Fenster und feuert eure Live-Coaches.  Ja, ihr seht super aus, mit euren ausdefinierten Ärschen und den Waden und all das. Doch es bringt nichts, sorry, ihr müsst bleiben, wo ihr seid. Das Klima und der Kapitalismus ist sowieso schneller und verfolgt euch überall hin. Daher ein Tipp: Das Außen hereinlassen statt vor ihm zu fliehen. Den Teufel zum Dinner einladen statt ihn auszusperren wie eine Hündin vor Restaurants und Krankenhäusern.

Am Park-Exit zur 45. Straße ein Schild: „Ich weiß nicht, was ich ohne diesen Park machen würde. Ich brauche meinen morgendlichen Spaziergang, um mich zu erden.“
Ryan, 59, Central Park Visitor #ineedthepark #theparkneedsus

„The park needs us“ (der Park braucht uns), das ist genau das, was ich meine. Das Außen hereinlassen, nicht-menschliche Dinge als gleichwertige Wesen wahrnehmen, den Menschen einen neuen Platz auf der Welt zuweisen, fernab des selbst zugewiesenen Logenplatzes.

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Heimlich Grip: Mache eine Faust mit einer Hand. Halte sie mit der anderen Hand gegen den Bereich der Person zwischen Bauchnabel und unterem Brustkorb.

Mache schnelle auf und abgehende Bewegungen, bis das Essen oder das Objekt heraus gepresst wird. Wenn die Person nicht mehr reagiert, rufe 911 oder ein lokales EMS Telephone. Gehe zurück zur Person. Lege die Person flach auf den Rücken. Entferne das Objekt, wenn du es siehst.

Ist das Objekt nicht zu finden, dreh den Kopf der Person hin und her. Beginne CPR. Schaue jedes Mal nach dem Objekt, wenn du die Luftröhre öffnest. Mache weiter mit der Brustmassage, bis die Sanitäter kommen.

Hier wird gejoggt bis zur Apokalypse: Central Park, Manhattan, New York City

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Das letzte Wort, dass ich gegoogelt habe, ist „threesome sex“. Scherz. Es war „Tacos“.

Na ja und dann…

lasse ich meine Impulse leben ohne die bestrafenden Peitschen des Denkens. Fahre mit dem Fahrrad mit 21 m/h durch die 5th Avenue und hoffe, nicht zu sterben, eingequetscht zwischen den SUVs und Taxis, die ständig herum hupen wie kleine schreiende Babys oder Investment-Banker, die bei der Mittagspause ihre Minderwertigkeitskomplexe mit überteuerten „Lunch-Deals“ kompensieren.

„Oh my god“, sage ich flamboyant wie mein New Yorker Kumpel Joe, als er in der Jupiter Disco darke Bassmusic auflegte. Ich habe keinen solchen god. Dennoch warf god sich schützend vor mich, als der Typ mit dem weißen Geländewagen mir auf der 3rd Avenue den Weg abschneidet. Vielleicht ist god ein Wolkenkratzer? Sie bäumen sich vor mir auf wie ein Wald, der seinen Reichtum vor lauter Wäldern nicht sieht. Schlagen Schluchten und Schneisen durch ganz Manhattan. Überragen jede Vorstellung von Raum. Verstärken die Klänge der Stadt um das Vielfache. Warum den Mount Everest besteigen, wenn es Manhattan gibt. Kapital in Beton gepresst, um bewundert zu werden. Zwei Hubschrauber kreisen um das Empire State Building. Adler auf der Suche nach Beute. Das Rattern ihrer Flügelschläge.

Eine neue Studie fand heraus, dass 140.000 der Amerikaner, die mehr als 1.6 Millionen Dollar pro Jahr verdienen, keine Techgiganten sind, sondern Besitzer regionaler und Familienunternehmen. Autohändler, Getränkelieferanten und sowas.

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Ich werde gefickt. Ich ficke. Ich gebe keinen Fick. Ich gebe einen Fick.

Hätten wir das nun auch geklärt – und, auf welcher Seite ich stehe. Auf keiner. Oder beiden.

McKenzie Wark schreibt: „Meine Utopie: Bevor jemand versucht, jemand zu ficken, wird er zuerst gelernt haben, wie man gefickt wird. Unabhängig von Gender oder was auch immer.“¹

Sirius A ist der hellste Stern im Nachthimmel. Er ist präsent in den Legenden und oral histories verschiedener Kulturen auf dem afrikanischen Kontinent.

Es gibt mehr Starbucks allein zwischen der First und 5th Avenue als Sterne im Universum. Wow.

Ich lasse mich davon nicht beeindrucken. Gehe zur Levain Bakery, wo Cookies und Scones hinter verglasten Scheiben in überarbeite Gesichter schauen. Das „Raisin Wholegrain“-Ding schmeckt megagut.

Sich vorstellen, das Leben fände rückwärts gespult statt und nie wieder etwas bereuen, weil alles in der Zukunft und nichts im Vergangenen passiert.

Was würde Bro dazu sagen, oder god?


1 Übersetzt von Autor, im Original: „In my utopia: before anyone attempts to fuck another, they will first have learned how to be fucked. Irrespective of genders or whatnot.“ Aus: McKenzie Wark: „Reverse Cowgirl“. Semiotexte 2020.

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