vonPhilipp Rhensius 24.05.2022

Reality Glitch

Alltagsszenen anhalten, während sie passieren. Sie neu zusammensetzen. Mal poetisch, mal hyperreal, mal wtf!?

Mehr über diesen Blog

In der DIY-Musikszene, die weder auf Spotify zu hören noch sonst wo wirklich zu sehen ist, ist es üblich, Platten und Merchandise direkt an Hörer*innen zu verkaufen. Oder in Plattenläden zu gehen und nachzufragen, ob Interesse an ein paar Exemplaren der selbst produzierten Tonträger bestünde. Das hat was von Staubsauger verkaufen und ist nicht leicht für einen Smash-Capitalism-Pseudo-Punk, der immer noch ein bisschen in mir steckt. Immer, wenn ich mit Platten unter dem Arm eine Türschwelle einen Laden betrete, verwandele ich mich in einen kleinen schüchternen Jungen. Doch New York hat mir neuen Mut gemacht. Dort konnte ich nach 10 Tagen alle meine mitgenommenen Platten von meinem Label Arcane Patterns verkaufen. Kurzer Einschub: Um Profit geht es dabei nicht, eher darum, auf Null herauszukommen, was jedoch leider selten der Fall ist.

Angespuckt werden im Plattenladen

Die New Yorker Shop-Inhaber*innen sind super offenherzig. Wenn ich ihnen von meinem Label erzähle, das ich mit einem guten Freund ganz ohne Profitstreben betreibe, bedanken sie sich total herzlich – und kaufen oft zwei, drei Exemplare. Ohne das Abgleichen irgendwelcher Szene-Etiketten und das saudämliche Herum-Gechecke, wie ich es aus Berlin kenne. In Berlin spucken sie dich an, in New York küssen sie dich. In Berlin verziehen sie das Gesicht, wenn du in einem Recordshop nach einem DIY-Deal fragst, wenn du nicht bereits da und dort aufgelegt oder gespielt oder irgendwelche Reviews in einschlägigen Magazinen hast. Dass das in den USA anders ist, liegt vielleicht auch daran, dass hier das Machen von Musik, aber ganz allgemein das Machen, genauso wertgeschätzt wie die Musik oder das Produkt selbst.

Es gibt auch in allen anderen Lebens- und Arbeitsbereichen diesen Respekt gegenüber dem Machen. Auch als Barkeeper*in, Putzmann oder Bauarbeiter*in wird während der Arbeit ein performativer Stolz gepflegt. Die Leute haben einfach Bock aufs Leben, so scheiße es auch manchmal sein mag. Jeden Feuerwehr-Wagen ziert irgendein Logo, das die jeweilige Truppe selbst designt hat. Bauhelme sind oft tapeziert mit Aufklebern von Bands oder Sprüchen und dem Spitznamen der sie tragenden Person. Individualismus, jaja, ganz böse, aber Individualisierung, die Betonung des Selbstwertes für das eigens geschaffene, das kann schon gesund sein für eine von den Anforderungen der Gegenwart perforierte Psyche. Ich als Freelancer fühle mich jedenfalls seltsam gut aufgehoben unter diesen Menschen.

Stopp. Notbremse ziehen. Der bescheuerte Soziologe in mir möchte eine Frage stellen. Oder zwei.
Ok.
Ist dieser Vibe des Machens nicht zugleich Teil einer unschönen Ideologie? Self Made Man, der American Dream des strebenden Unternehmer*innentums und so?

Grausamer Optimismus

Vielleicht ist die Performance der positiven Affirmation des Machens das, was Lauren Berlant „Cruel Optimism“ nennt: ein besseres Leben begehren und zugleich wissen, dass es nie wirklich eintreten wird. Die Tendenz, das Beste zu erwarten und immer das Beste in etwas zu sehen, der Glauben, dass das gute irgendwann kommt, um das böse zu besiegen – was auch immer das gute und böse sein mag. Doch dass das böse zugleich im guten und das gute zugleich im bösen existiert, bedeutet nicht, dass das gute, das das böse verdeckt, nicht dennoch einen möglichen Ausweg aus der Misère aufzeigt.

also Berliner Plattenläden und alle anderen dort wohnenden:
strengt euch an
seid lieb zueinander
macht euch locker
schätzt die direkte Transaktion
traut den Menschen
mit denen ihr sprecht statt den Zahlen und Ratings auf dem Bildschirm
werft eure Exemplare von „Die Gesellschaft der Singularitäten“ aus dem Fenster
seid stolz darauf, DAS ihr was macht und nicht nur darauf, WAS ihr macht
performt euer Leben!

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/reality-glitch/grausamer-optimismus/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert