vonSchröder & Kalender 01.12.2006

Schröder & Kalender

Seit 2006 bloggen Schröder und Kalender nach dem Motto: Eine Ansicht, die nicht befremdet, ist falsch.

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Der Bär flattert in nordöstlicher Richtung.
Wir rudern gerade in den alten Zeiten herum, in einem Meer von Fotos, die wir ins Deutsche Literaturarchiv einliefern werden. Die ganze Bude sieht aus wie ein Fließband mit Archivschachteln. Die Bilder aus der Vergangenheit gehen einem auch emotional auf den Wecker. Wir trösten uns damit, daß wir einerseits die ganze Scheiße bald hinter uns haben, wo sie hingehört, und andererseits eine Auswahl von ungefähr 50 Fotos machen werden, die zu ›Schröder erzählt‹-Geschichten passen, welche wir in nächster Zeit in unser tazblog stellen werden.

Aus ›Geschäfte‹:

Nun mal weiter per Wurmloch zum März 1969 … was gibt es da zu grinsen? So versucht man doch die Zeitreise zu veranschaulichen: Ein Wurm sitzt an der Blüte eines Apfels und will zum Stiel. Das kann er tun, indem er auf der Apfelschale entlangkriecht, oder er frißt sich sozusagen vom Nordpol zum Südpol durch, gräbt einen Tunnel durch die Raum-Zeit. Zeigen jetzt die Uhren am Ein- und Ausgang des Lochs dieselbe Zeit an und bewegt sich der Ausgang des Tunnels auch noch, dann ist der Wurm wegen des relativistischen Effekts in der Vergangenheit angekommen. Und schon sind wir bei Schrödingers Katze und der Quantentheorie, der Albert Einstein mit seinem Diktum »Gott würfelt nicht!« widersprach. Mit dem Großvater-Paradoxon wollte er beweisen, daß es unmöglich ist, mittels einer Tachyonen-Flinte den eigenen Großvater zu erschießen, bevor der den Vater zeugen konnte. Die Quantentheoretiker halten dagegen, das ginge durchaus, nur müßte sich eben der Reisende durchs Wurmloch mit einer äußerst exotischen Materie umgeben: einer von negativem Druck, die zusätzlich unter Spannung steht und sich somit ständig in einem Zustand kurz vor dem Zerspringen befindet. Eine Materie von ähnlich flüchtiger Beschaffenheit, wie es Erinnerungen sind, etwa der Gurkensalat, der mir neulich aus den Tiefen des Bewußtseins hochkam; eben nicht Schrödingers Katze, sondern Schröders Kotze. So kann es einem als Wurm gehen: Man will ins Jahr 1969 und kommt 1943 raus. Noch quantenreicher wird die Materie, wenn ich den Anfang dieser Geschichte nicht selbst erzähle, sondern es Barbara überlasse:

»Es muß ein Freitag gewesen sein, mittags gab’s Fisch und dazu Gurkensalat. Abends kam ich später in die Küche, du hattest schon den Mozzarella in Scheiben geschnitten, aber der Käse sah ekelhaft aus, wie ein weißer Schwamm, großporig und faserig! Eine Konsistenz von ›Noin! Das ißt meine Nichte nicht!‹, wie Tante Gretchen aus Darmstadt immer beim Metzger protestierte, wenn ich wegen einer groben, fetten Wurst den Kopf schüttelte. Weil du dir aber schon die Mühe gemacht hattest, Tomaten und Basilikum zu ernten und die Soße anzurühren, dachte ich, das kann ich ihm nicht antun, deshalb aß ich ohne Protest, aber mit Widerwillen. Später konnte ich nicht einschlafen, weil mir so übel war, du hast zufrieden neben mir geschnarcht. Schließlich steckte ich den Finger in den Hals, und während ich mir danach die Zähne putzte, kamst du schlaftrunken ins Badezimmer und fragtest, was denn los sei. ›Ich mußte kotzen.‹ Da kam deine komische Bemerkung: ›Das liegt am Gurkensalat, der ist schwer verdaulich. Auch Erwachsene haben sich schon übergeben. Na ja, sie hatten vielleicht auch etwas getrunken.‹«

So war es, Barbara riß mich aus dem Tiefschlaf, und weil sie nach meiner somnambulen Antwort so verwundert guckte, wurde ich richtig wach und wußte, dieser Spruch kam von tief unten, als ich fünf Jahre alt war und wir meine Patentante am Lehnitzsee besucht hatten. Elfriede Rusch ist die Jugendfreundin meiner Mutter, ein paar Jahre älter als sie. Die beiden lernten sich im Tennisclub Grün-Gold kennen. Immer wieder erzählt Edith von der dicken Elfi, die eigentlich keine Lust hatte, Sport zu treiben, keinen Ball erlaufen wollte, aber wegen ihrer Fröhlichkeit von den besten Galanen umschwirrt wurde. Über sie lernte meine Mutter Kurt Schröder kennen, den Amtsrat aus dem Reichsinnenministerium. Dort arbeitete Elfi perverserweise bis zum Kriegsende, obwohl ihre Vorgesetzten wußten, daß Elfis Mutter Jüdin war, sie also nach Globkes Judengesetz-Kommentar eine »Halb-Jüdin« beschäftigten. Irgendwie haben es diese Beamten gedreht, Elfi und ihrer Mutter passierte nichts. Sie wiederum wußte, was mit den Juden geschah, das wurde ja vom Innenministerium mit organisiert. Doch ich merkte meiner Patentante während der Kriegsjahre nie einen Kummer oder eine Bedrückung an, sie behielt diese jubilierende, fröhliche Stimme. Stell sie dir trotzdem nicht dämlich vor, sie war berlinerisch keß und schlagfertig, eine goldene Natur.

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Tante Elfi im August 1958 vor ihrem Haus am Lehnitzsee

Ich liebte Tante Elfi besonders, weil sie auch in den schlechten Zeiten immer etwas Süßes hatte. Sie ißt noch heute – mit siebenundneunzig – täglich eine Tafel Schokolade, kann kaum laufen und schreibt uns Postkarten wie: »Mit mir ist nicht mehr viel los. Vielleicht wache ich morgen früh auf und lebe nicht mehr. Vielleicht werde ich aber auch hundert. Heute muß man ja mit allem rechnen.« Sie bewohnt in der Karl-Marx-Allee eine DDR-Luxuswohnung. Die bekam sie durch ihren späteren Mann Fritz Fiegel, kein Funktionär, aber er genoß als ›Opfer des Faschismus‹ Privilegien und bezog als Jude eine Ehrenrente. Fritz war Ingenieur, hatte auf einem Druckposten als Modellschreiner das KZ Sachsenhausen überstanden. Elfi und er lebten wie Philemon und Baucis, bis er mit fünfundachtzig starb.

Wenn ich zurückrechne, war es so 1943, als wir Tante Elfi im Hause ihrer Eltern am Lehnitzsee besuchten. Es gab dort immer etwas Gutes zu essen trotz der miesen »Versorgungslage«, Oma Rusch fuhr aus ihrem Garten auf, was sie nur konnte. Ich aß viel vom Gurkensalat mit Dill und saurer Sahne – »jute Jurken« –, den Hauptgang habe ich vergessen. Später nahm Elfi mich zur Seite: »Na komm man, Jörgchen, ick zeig dir ma wat Schönet im Jarten.« Wir gingen aber nicht raus, sondern sie führte mich in ihr Zimmer. Dort langte sie ein weißes Porzellanungetüm mit Deckel vom Regal, keine Bonbonniere, eher eine Urne. Als Tante Elfi den Deckel abnahm, war das Ding randvoll mit Weingummis, raupengroßen Lakritzstangen und -kugeln mit farbigen Glasuren. Hauptsächlich hatten es mir die Lakritzkugeln mit dem bunten Zuckerguß angetan. Wunderbares Zeug! So was gab es schon, bevor Hans Riegel in Bonn seinen Haribo-Konzern gründete. Gemeinsam putzten wir den halben Urneninhalt weg.

In der Kriegszeit waren solche Sachen selten. Deshalb dachte ich auch, der Himmel sei ein Ort, an dem es Süßigkeiten im Überfluß gibt. Ich glaube nicht, daß sich heute bei uns ein Kind das Paradies so vorstellt, die Kinderschokoladen werden denen ja vorne und hinten reingeschoben. Die träumen eben von Inlinescates, Walkmen oder ähnlichem Muff. Ach, im Prinzip ist es ja auch gleichgültig, wie man sich das Paradies möbliert. Für mich bestand es damals aus Lakritzen, und mit denen im Magen fuhr ich in der S-Bahn von Lehnitz Richtung Gesundbrunnen. Halt! Ich darf das Wichtigste nicht vergessen! Tante Elfi hatte mir eingeschärft, meiner Mutter keinesfalls zu verraten, daß ich so viel auf einmal gegessen habe. Denn wenn sie mir mal Süßes mitbrachte, wurde das eingeteilt, damit ich mir den Magen nicht verdarb. »Sach bloß der Mutti nischt, wenn wir det jetzt allet essen!« hatte Elfi geflötet, während wir dahockten wie zwei Kinder, die heimlich ein Marmeladenglas auslöffeln, was den Reiz dieses Naschens nun wirklich ins Paradiesische steigerte.

Die S-Bahn ruckelte, ich saß und glotzte auf den Lehnitzsee, plötzlich kotzte ich eine schwarze Fontäne in den Gang. Meine Mutter rief entsetzt: »Det is der Jurkensalat. Der liecht schwer im Magen! Ooch Erwachsene haben sich da schon überjeben. Na ja, sie hatten vielleicht ooch wat jetrunken.« Aber wirklich besorgt war sie, weil der Mageninhalt diese bedrohliche Färbung hatte. Gleich am nächsten Morgen ging’s in Niederschönhausen zu Doktor Kupke: »Der Junge hat sich in der S-Bahn überjeben. Det Erbrochene war janz schwarz!« Der Arzt tastete mich ab: »Da is nischt, der is kernjesund. Wat hat er denn jejessen?« »Jurkensalat.« Es blieb beim ratlosen Kopfschütteln. Ich hielt dicht, war ja schon immer sehr verschwiegen. Bis heute weiß Edith nicht, warum ich schwarz gekotzt habe, denn ich versenkte das Geheimnis tief in meinem Herzen, bis es als Gurkensalat neulich nachts wieder hochkam.

(Fotos: privat / DLA / BK / JS)

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kommentare

  • Schöne Geschichte und ein sehr anschauliches Foto. Der Hund scheint dem Hundehimmel auf Erden sehr nah zu sein.

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