vonSchröder & Kalender 07.03.2007

Schröder & Kalender

Seit 2006 bloggen Schröder und Kalender nach dem Motto: Eine Ansicht, die nicht befremdet, ist falsch.

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Der Bär flattert in nördlicher Richtung.

Soeben kommt eine Pressemeldung von Martin Schmitz herein, die uns betrifft. Deshalb bringen wir sie hier im Wortlaut:

In Berlin wird 2007 zum ersten Mal der “Ich sehe was, was Du nicht siehst!” – Kulturpreis verliehen. Sonntag, den 18. März 2007 um 19.00 Uhr Raststätte Gnadenbrot, Martin-Luther-Str. 20 a, 10777 Berlin-Schöneberg

Françoise Cactus (Musikerin, Stereo Total), Wolfgang Müller (Künstler, Die Tödliche Doris) und Martin Schmitz (Verleger/Dozent) haben sich entschieden: Wollita überreicht zum ersten Mal den “Ich sehe was, was Du nicht siehst!” – Preis an den

MÄRZ Verlag, Barbara Kalender & Jörg Schröder

Hintergrund
Die 172 Zentimeter große Wollita wurde 2004 von Françoise Cactus in mühevoller Arbeit für eine Ausstellung gehäkelt. Wollita war sehr jung, gerade mal 18 Jahre. Heute weiß sie aus eigener Erfahrung, dass man in unserer Gesellschaft nicht unbefleckt durch das Leben kommen kann. Im zarten Alter von 18 wurde sie von BILD und B.Z. nämlich in einer Ausstellung im Kunstraum Kreuzberg entdeckt und in einer wochenlangen Kampagne zum Porno-Star erhoben, dessen Anblick Pädophile zum Kindesmissbrauch ermutige. Die B.Z. forderte in Kommentaren die sofortige Schließung der Ausstellung. Das war im Jahre 2004. Dabei besteht Wollita vollständig aus 100 % reiner Schurwolle.

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Über dreihundert prominente Künstler und Kulturschaffende schlossen sich dem Aufruf von Wolfgang Müller an: Sie unterzeichneten die Forderung nach einer großzügigen Spende des Springer-Verlages an Opfer von Sexismus und sexueller Gewalt und vor allem die Verleihung des alljährlichen B.Z. Kulturpreis an Wollita: „Wollita (18) muss den B.Z.-Kulturpreis 2005 bekommen!“ Ihre Freunde demonstrierten dafür sogar vor dem Springer-Hochhaus. Es hat nichts genützt. Wollita ging leer aus – bis heute. Dabei hat sie bereits im Alter von neunzehn Jahren ihre Biografie geschrieben und eine CD mit anspruchsvollen Chansons veröffentlicht.
Am 23.1.2007 wurde erneut der B.Z. Kulturpreis verliehen, unter anderen auch an Tokio Hotel mit folgender Begründung: 1. Weil sie sich von Drogen fernhalten – und auch so Spaß haben können. 2. Weil sie schon als Kinder wussten, wo sie hin wollten. 3. Weil sie absolut professionell sind, obwohl sie nicht mal zwanzig Jahre alt sind. 4. Weil sie nicht so tun, als würden sie alles selber machen. Sie geben zu, dass sie einen Produzenten haben und 5. Weil sie den Fans gern Autogramme geben.
Alle fünf Punkte treffen auch auf Wollita zu, die gerade 20 ist – und trotzdem geht sie wieder leer aus. Statt auf einen Preis zu warten, hat Wollita nun selbst einen Preis ausgeschrieben, den “Ich sehe was, was Du nicht siehst!” – Preis, der ab 2007 jährlich verliehen werden soll.
Wollita: „Die B.Z.-Preisträger bekommen einen Preis, weil sie prominent, angepasst oder stumpfsinnig sind. Oder weil sie vierzig Jahre lang kopfstehende Bilder malen oder wie Immendorf die BILD-Bibel illustrieren.“ Wollita sagt: „Existenzangst ist doch kein Grund für eine Ehrung!“ Doch dann hält sie nachdenklich inne: „Ich habe ja auch eine Riesenangst vor Motten – aber dafür möchte ich doch keinen Preis bekommen!“ Tatsächlich wird die ehrgeizige Strickpuppe in Zukunft Persönlichkeiten und Institutionen auszeichnen, die das Denken geöffnet haben und Räume schaffen für neue Qualitäten in Kunst, Kultur, ja sogar im Leben. Devianz und nicht-marktkonforme Produktion sollen ausgezeichnet werden.

Die Preisträger
Der erste Preisträger für den von Wollita verliehenen Ich-sehe-was-was-Du-nicht-siehst! – Preis wird der MÄRZ-Verlag sein. Dieser hat zwischen 1969 und 1972 Bücher verlegt, die bis heute wirken: Mit Günther Amendts Aufklärungsbuch SEXFRONT, Hermann Nitschs Orgien-Mysterien-Theater, Ken Keseys Einer flog über das Kuckucksnest, der neuen amerikanischen Popliteratur in ACID oder SCUM von Valerie Solanas und Jörg Schröders eigenem Buch Siegfried, versammelten sich hier zahlreiche Kultbücher.
In der Zeit von 1975 bis 1987, der zweiten Phase des Verlags, erschienen wiederum Bücher, die Geschichte machten und nicht nur Skandale, als Beispiele sind zu nennen: Bernward Vesper, Die Reise, die Anthologie März-Mammut, die Commune-Trilogie Jacques Vingtras von Jules Vallès, einer der bedeutendsten französischen Romane des operativen Genres. 1988 beendete März sein allgemeines Programm, und das Deutsche Literaturarchiv in Marbach übernahm das Verlagsarchiv. Barbara Kalender und Jörg Schröder setzten ihre Arbeit unter dem Imprint März Desktop Verlag fort, in der Reihe Schröder erzählt sind bisher 48 Folgen mit fast 3000 Seiten erschienen.
Die drei Jurymitglieder waren sich sofort einig. Wolfgang Müller: „Ohne den MÄRZ-Verlag wäre meine Pubertät – ich bin Jahrgang 1957 – ein Desaster gewesen.“ Martin Schmitz: “Für mich ist MÄRZ vorbildlich” und Françoise Cactus ergänzt: „Wollita ist total begeistert von Valerie Solanas SCUM-Manifest!“

Die Preisverleihung
Wollita persönlich wird den Verlegern des MÄRZ Verlages Barbara Kalender und Jörg Schröder im Verlauf eines Menüs am Sonntag, den 18. März 2007 um 19.00 Uhr in der Raststätte Gnadenbrot, Martin-Luther Straße in Berlin den Preis überreichen. Die Mutter von Wollita, Françoise Cactus und ihr Vater Wolfgang Müller werden anwesend sein und mit anderen Musikern den festlichen Rahmen bilden. Die Laudatio hält Martin Schmitz.

Mit besten Grüßen von Martin Schmitz.

(MS)

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