Der Bär flattert in westlicher Richtung.
Langsam wird es lästig. Erst meldete sich eine Professorin (Psychologin) und verlangte Unterlassungen in einem ›Schröder erzählt‹-Text, dann ein Urheberrechtsanwalt (Schlafende Hunde) und gestern nun der Prokurist eines Konzernverlags (Schlafende Hunde).
Wie weise war doch unser Entschluß, als wir 1990 mit der ›Schröder erzählt‹-Serie begannen, rein vorsorglich zu erklären, daß wir uns jedem anwaltlich vorgetragenen Unterlassungsbegehren beugen werden. Denn in solchen Fällen Prozesse zu führen, ist sinnlos, weil die Rechtsprechung nun einmal so lautet, daß die Rechte von Beschwerdeführern auch dann verletzt sind, wenn uns in jedem Fall der Wahrheitsbeweis gelingen sollte.
Weil das Konzept so richtig und schön war und noch immer ist, hier für die Liebhaber von Blogwüsten die Ankündigung unseres Erzählvorhabens vom Februar 1990:
Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde,
»Schröder! O Gott, o Gott, wollen wir auf diese Ebene der Literatur gehen?« entfuhr es neulich dem Bambi-Preisträger Marcel Reich- Ranicki in der ZDF-Sendung ›Das literarische Quartett‹, als Jürgen Busche bemerkte, es gebe sehr wohl lesenswerte Literatur hier. Er, Busche, habe nämlich Schröders Buch gern gelesen: »… die Bedeutung überlasse ich Ihnen, ich möchte das Vergnügen haben!«
Da könnte ich mich eigentlich auch vergnügt zurücklehnen und den Pleban einen Papst sein lassen – wenn ich Ihnen nicht etwas anzubieten hätte. Doch davon später. Zunächst lade ich Sie zu einem kleinen Spaziergang über die Ebene ein: »Auf die mir immer wieder entgegengebrachte Bitte, ich möge doch bitte mal erklären, wovon ich rede, viele Leute und Leser seien schließlich mittlerweile so jung, daß sie nicht einmal mehr wüßten, wer Iggy Pop ist, möchte ich ausnahmsweise eingehen, so ungern ich das auch tue und wie unbekömmlich für die Schönheit eines Textes es auch sein mag, wenn man Namen und Daten, die aus sich heraus schön und reich und beredtvoll sind, schnöde mit Referenzen anfüllt, die man mühselig und unpoetisch zusammensuchen muß«, das sage bescheidenerweise nicht ich, sondern dies schreibt in einer Glosse Diedrich Diederichsen und fährt fort: »… hier also die Eckdaten des Mannes, der möglicherweise auch Deutschlands größter Erzähler der letzten 15 Jahre genannt zu werden verdient: Jörg Schröder ist der Erfinder des erweiterten Verlegertums, in ihm vermischten sich, seit er den Melzer Verlag in den Sechzigern quasi übernahm und später per Palastrevolution daraus seinen MÄRZ Verlag machte, naiv-idealistisches Unternehmertum (der Unternehmer als Abenteurer, den die systemtragenden Legenden immer beschwören und der, wenn er einmal wirklich irgendwo auftaucht, natürlich immer wieder schön und lehrreich und tragisch am System scheitern muß) mit paranoisch-kritischer politischer Klugheit. Von Anfang an war das MÄRZ-Programm undogmatische, linke Underground-Dokumentation, man fand immer nebeneinander radikale Politik und radikale Kunst (Frantz Fanon und Hermann Nitsch), Spinner (Valerie Solanas) und Genies (R. D. Brinkmann), Szene-Seller (Amendts ›Sexfront‹) und Obskurstes, Poetisches von hohem dokumentarischem Rang (Gerard Malanga, Ted Berrigan), also Dinge, die sich im Programm eines Untergrundverlages mit einer Message (und damals waren Messages verdammt monolithisch und wurden verdammt ernst genommen, Bruder!) im Message-Rahmen widersprechen, die aber einen Zusammenhang ergeben im Schröder-Zusammenhang, den man als den Ehrgeiz bezeichnen könnte, erweiterte Geschichtsschreibung per Büchermachen zu betreiben. Dokumentieren, bevor es zu spät ist.
Mit ›Siegfried‹, einem Buch, das nach seinem Erscheinen mit Verleumdungsklagen in ungekannten Ausmaßen überzogen wurde und auch heute nur mit geschwärzten Zeilen erhältlich ist, erfand Schröder eine neue Ausdrucksform. Statt Geschichten per Büchermachen zu schreiben, erzählte er seine Geschichten. Und zwar, wie Kultur und Kulturpolitik von Menschen gemacht werden und wie alles mit allem zusammenhängt. Dies wurde oft als denunziatorisch empfunden, entspricht aber genau dem, was ich an anderer Stelle den ›Klatsch als die letzte materialistische Waffe gegen die Meinung‹ genannt habe. ›Siegfried‹, das Schröder Ernst Herhaus erzählte und von ihm bearbeiten ließ, ist bei aller Detailfülle, bei allem ›spiralistischen‹ Abdriften in Bei- und Nebengeschichten sozusagen das Manifest, an dem Allgemeines klar wird darüber, wie ›der Scheiß, der in den Feuilletons Kultur genannt wird‹ (Schröder) entsteht. Spätere Texte gehen dann ins Detail.
Nach einem ersten Bankrott des MÄRZ Verlages in den frühen 70ern folgt ein zweiter MÄRZ Verlag, der vorübergehend mit Zweitausendeins zusammenarbeitet, bis Schröder, der mit MÄRZ einige Hits geliefert hatte, sich von Zweitausendeins übervorteilt fühlt (auch dies ist, unter Nennung aller Beteiligten und in diverse Nebengeschichten ausufernd von Schröder nacherzählt, nachzulesen in einer Geschichte der Anthologie ›Mammut‹) und MÄRZ wieder in den normalen Buchhandel geht, Uwe Nettelbeck ein zweites Buch erzählt, ›Cosmic‹, unter anderem über NATO-Geheimnisse und Merkwürdigkeiten in der grünen/alternativen Szene am Vorabend der Friedensbewegung.
Die vor zwei Jahren erschienene Anthologie ›Mammut‹ erzählt jetzt die ganze Geschichte der Bewegung anhand von fremden MÄRZ-Texten auf über 1200 Seiten, darunter aber auch wieder in Schröders eigenen Worten. In Zusammenhang mit ›Mammut‹ habe ich Schröder dann zumindest am Telefon persönlich kennengelernt, denn ich sollte das Buch für den ›Spiegel‹ besprechen. Diese Besprechung wurde dann nicht gedruckt, wie auch eine andere von Rainald Goetz nicht. Schröder druckte dann beide in seinen nächsten Verlagsprospekt, und all das und warum er meint, daß die Texte verhindert wurden und wieso wir mit dem Nachdruck in verschiedener Intensität nicht einverstanden waren – das ist eben auch wieder eine typische Schröder-Geschichte, weswegen ich sie jetzt nicht erzähle. Der Vorgang scheint aber zu beweisen, daß um Schröder herum – wenn man sich nur in seine Nähe begibt, sieht man es – unausgesetzt Schröder-Geschichten entstehen.
Was den Schluß nahelegt, daß er die Welt von sich aus entsprechend organisiert (darüber wird in diesem Interview gesprochen). Es läßt aber auch den Schluß zu, daß die Welt (oder die Welt der Kultur) ihrerseits naturgesetzlich in Schröder-Geschichten organisiert ist und nur ein Schröder die Blätter umzudrehen braucht, um eben das festzustellen. Als Medium. Seine Kunst zu nennen, wäre die Fähigkeit, dies so darzustellen, daß es seinen Lesern einleuchtet.
Schröder kennt praktisch jeden, und er interessiert sich für jeden, gibt an, auch seine Opfer zu lieben (was, nebenbei gesagt, für den Kenner seiner Bücher nicht so sensationell ist): denn was sonst heißt schließlich das Wort ›mit Liebe geschrieben‹ als ›mit Liebe vernichtet‹, ›menschenfeindlich‹ ist das vernichtendste seiner Verfluchungsadjektive, und außerdem ist der Mensch im emphatischen Sinne als der Ort des naturgemäß Widersprüchlichen unverzichtbarer Kern seiner impliziten Behauptung, daß alles mit allem zusammenhängt. Und diese Behauptung würde ohne die Kontrolle an ausgesuchten Menschen und den dadurch immer wieder erbrachten Beweis, daß die Erzählung eine der entscheidenden Waffen des Humanismus gegen das restlose Aufgehen der Menschen in ihren objektiv menschenfeidlichen Funktionen im System ist (war), in eine Philosophie der beliebigen Geschwätzigkeit zerfallen. Also: Hier ist der Ort, wo Schröders Erzähldrang/zwang die Härte bekommt, die ihn wichtig macht und vom Kulturstammtisch unterscheidet. Und so gesehen ist der Gedanke, daß alles mit allem zusammenhäng, der, zu Ende gedacht, ja so banal wie richtig ist, mehr, nämlich die Aufforderung an jeden, alles und jeden anderen zu kennen und kennenzulernen, die Aufforderung zum enzyklopädischen Wissen und damit zum enzyklopädischen Geist. Und da bin ich sofort dabei.
In Schröders Vita gibt es eine Fülle von absurden, grotesken, lustigen, verzweifelten geschäftlichen Aktionen. So gründete er 1970 die ›Bismarc Media‹, eine Agentur, die intern die Aufgabe hatte, nichts zu produzieren, der Geschäftsführer war darauf verpflichtet, nichtssagend, vage und großsprecherisch rumzuschwafeln. Leider war das das Allerschwierigste, nichts zu produzieren. Heute hat Schröder sich als Rettungsmaßnahme für seinen Verlag die Aktion ausgedacht, jedem, der für 200,– DM MÄRZ-Bücher abnimmt, persönlich die Schuhe zu putzen. Außerdem wird unter allen Abnehmern dieses Pakets unter anderem Schröders Haus verlost …«
Dieser Eloge in SPEX – Musik zur Zeit – (Januar 1987) folgte das o. e. lange Gespräch mit Diedrich Diederichsen, Albert Oehlen und Jutta Koether. Drei Monate später hatte ich zwei kleinere Herzinfarkte. Daß sich die Rekonvaleszenz eines Verlegers und die Sanierung eines Verlages gegenseitig ausschließen, dürfte einleuchten; der MÄRZ Verlag mußte liquidiert werden.
Um das Buchlager stritten sich die Gläubiger, unser Haus (aus den Rettungsanzeigen) wurde von der Bank versteigert, mein persönliches Archiv nebst dem des MÄRZ Verlages (insgesamt 200 000 Blatt) übernahm als Vorlaß das Deutsche Literaturarchiv im Schiller-Nationalmuseum in Marbach a. N. Im Herbst 1989 sind wir nach Leeder (50 km südwestlich von München) umgezogen.
Nun zu meinem Angebot: Ich verspüre jetzt wieder Lust, mich auf jene Ebene zu begeben, auf der ich Reich-Ranicki und zahlreichen anderen Gottesgeißeln und sinngebenden Quälgeistern offenbar heftige Pein bereite. So heftige übrigens, daß es einige von ihnen bei den üblichen Medienexorzismen nicht bewenden lassen. Ich habe deshalb mehr Zeit damit verplempert, mich gegen »Einstweilige Verfügungen«, Unterlassungsklagen etc. zu wehren, als das Erzählen und Redigieren meiner Geschichten gekostet hat. Daß ich in den gerichtlichen Händeln bisher immer obsiegte – bis auf einen Fall, bei dem ich nach fünfjährigen Auseinandersetzungen kurz vor den Schranken des BGH angeödet das Handtuch geworfen habe –, mag gut für die Wahrheit und schön für meine Anwälte sein, ist aber fürchterlich demotivierend für einen Autor. Stellen Sie sich vor, Sie erzählen eine Geschichte, und die kommt Ihnen monatelang, jahrelang von zig Leuten seziert und gewendet aus Schriftsätzen, Urteilen, Wortklaubereien, Rechnungen entgegen. Das reicht einem selbst dann, wenn die Richter von Zeit zu Zeit versuchen, einen mit Blumen forensischer Prosa zu erfreuen: »… Schließlich kann der Kläger auch Unterlassung der Bezeichnung ›Vielfraß‹ in Verbindung mit dem hier gewählten Wortbestandteil ›-arsch‹ verlangen. Das Wort ›Vielfraß‹ stellt eine bei der Abwägung der gegenseitigen Güter- und Interessenlage nicht hinzunehmende Formalbeleidigung und damit Beeinträchtigung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Klägers dar. Das Wort ›Vielfraß‹ ergibt vorliegend den Sinn, daß der Kläger ohne jeden Sinn und Verstand alles Verdaubare in sich hineinstopfe, was nach Auffassung des Beklagten dem Verhalten des entsprechenden Tieres entspricht und zu einem überdurchschnittlich umfangreichen Gesäß geführt hat. Selbst wenn der Kläger ein kräftiger Esser sein sollte und ein kräftiges Gesäß haben sollte, so geht die von dem Beklagten im Buch ›Siegfried‹ gewählte Charakterisierung über das jetzt beschriebene Erscheinungsbild des Klägers in nicht zu billigender Weise hinaus.«
Es drängt sich also die Kinderfrage auf, nein, nicht »Wozu?«, das weiß ich schon, sondern: »Soll das immer so weitergehen?« Soll ich mich zu allem Überfluß jetzt auch noch um die Angst kümmern, die in der Luft liegt und die mir von meinen Exkollegen, den Verlegern, entgegenkommt als die Angst, das Falsche zu verlegen? Soll ich, wie man mir anrät, meine Geschichten »verfremden«, die Zusammenhänge verändern, Menschen/Namen anonymisieren? Weil ich zu derlei Schlüssellochfiktionen, jedenfalls solange es um »meine« Literatur geht, keine Lust habe, jedoch zum Schweigen noch nicht abgebrüht genug bin, andererseits aber auch keine gedruckten Auflagen, die ich nicht verkaufen darf, im Lager mehr ertragen will, werde ich mich in Zukunft jedem gerichtlich vorgetragenen Unterlassungsbegehren gegen meine Texte beugen. Das heißt, der Text wird danach nicht mehr erscheinen.
Das bedeutet aber: Ich kann nur so viele Exemplare von meinen Erzählungen herstellen, wie subskribiert bzw. bis zum Eintritt eines Hinderungsgrundes verkauft sind.
Zum Glück gibt es jetzt eine Technik, mit der man einzelne Texte in vernünftiger Zeit ganz ordentlich drucken kann. Das Setzen, Drucken, Zusammentragen, Binden, Fakturieren und Versenden wird pro Exemplar durchschnittlich eine Stunde in Anspruch nehmen. Und weil ich ein Meister meines Fachs bin, nehme ich den durchschnittlichen Meisterlohn von 43,– DM plus 7,– DM Material- und Portopauschale. Erzählt wird natürlich wie immer gratis. Der Titel der ersten Folge lautet ›Glückspilze‹. Noch Fragen?
fragt mit den besten Grüßen Ihr Jörg Schröder
(BK / JS)
So ist es, lieber Jürgen Dohme, aber das gehört ja zu unserem Konzept. Um unser Prozeßrisiko auf Null zu reduzieren, bauten wir drei Tricks ein. Nummer eins: die prophylaktische Unterwerfung. Wir kündigten an, uns jedem gerichtlich vorgetragenen Unterlassungsbegehren zu beugen. Das heißt, die inkriminierte Textpassage wird danach nicht mehr erscheinen. Das bedeutet aber auch, ein Erniedrigter oder Beleidigter hat dann keine Handhabe mehr, gegen uns zu klagen.
Natürlich kann das nur funktionieren, weil wir uns der Vertriebsform des Publishing on Demand bedienen. Statt der üblichen, festgelegten Druckauflage brauchen wir nicht mehr Exemplare herzustellen, als bestellt und bezahlt sind. Warum das so wichtig ist? Na, weil wir deshalb auf ein Buchlager verzichten können! Daraus folgt Punkt zwei: In ein nicht vorhandenes Lager kann niemand vollstrecken. Und drittens muß man wissen, daß in Deutschland der Schadenersatzanspruch des Beleidigten von den Gerichten gemeinhin nach dem Verletzergewinn berechnet wird. Das wäre in unserem Falle der Nettoerlös, den wir als Autoren erzielt haben. Wenn nun der Text keinen großen Profit abwirft, dann ist der Verletzergewinn, mithin der Schadenersatz, ebenfalls niedrig. Wir müssen also sorgfältig darauf achten, daß unser Gewinn niedrig ist, damit wir besser verletzen können. Aber das bereitet uns die geringsten Probleme.
(BK / JS)