vonSchröder & Kalender 19.08.2010

Schröder & Kalender

Seit 2006 bloggen Schröder und Kalender nach dem Motto: Eine Ansicht, die nicht befremdet, ist falsch.

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Der Bär flattert in müde in östlicher Richtung.
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Auf dem Weg vom Bahnhof Zoo zur Schleuseninsel entdeckten wir einen Falken auf einem Lampenmast. Kurz nach dieser Aufnahme stürzte sich der Vogel mit ausgebreiteten Schwingen herab und riss eine Maus. Der Raubvogel kümmerte sich nicht um die Menschentraube, die sich wenige Meter neben ihm angesammelt hatte und ihn bei seiner Mahlzeit beobachtete.

Die Autorin Kristin Schulz hatte uns zur öffentlichen Generalprobe des Musiktheaters ›Der Findling‹ eingeladen, das sie zusammen mit der Regisseurin  Janina Janke und dem Komponisten Maurice de Martin sowie den Musikperformern Joanna Dudley (Performance/Flöte/ Vocal), Agnieszka Dziubak (Performance/Cello/Vocal), Vanessa Gageos (Performance / Vocal), Cyrill Lim (Performance / Posaune / Installation) und Mariel Jana Supka (Performance/ Tuba/ Vocal) entwickelte.

Aktionsort ist die ›Rosa Röhre‹ auf der Schleuseninsel im Tiergarten, ein gigantisches und etwas unheimliches Relikt der Technik des 20. Jahrhunderts. Es handelt sich um die ehemalige Versuchsanstalt für Wasserbau und Schiffbau der TU Berlin. Hier wurde früher unter anderem untersucht, wie sich bei Tankerunglücken austretendes Öl auf und im Wasser verhält. Das ist ja heute kein Thema mehr! Jetzt bohrt man gleich den Meeresboden an und das Öl verteilt sich ohne Umwege im Meer.

In der ›Rosa Röhre‹ bespielt die Oper Dynamo West zwei Bühnenbilder in den Versuchstrakten. Diese sind die Werkstatt über dem 3.000 Tonnen Wasser fassenden Kavitationstank und die 250 Meter lange Flachwasser-Versuchsrinne mit verschiebbarer Meßbühne. Beides sind ideale und monumentale Kulissen für die Kontinuität des Schreckens wie sie sich kein Bayreuth erfinden kann.

Schöner Schrecken wohlverstanden, in  rosa Neopren-Trikots zuweilen mit Reifröcken aus der Zeit und in fetischistisch hohen Stilettos performten die Sängerinnen und Musikerinnen auf Podesten wie auf dem Wasser schwebend, im Wasser treibend und schwimmend und auf der Versuchsbühne. Vornehm geht die Welt zugrunde! Denn auch beim ›Findling‹ nach Heinrich von Kleists düsterer und hoffnungsloser Novelle über den undankbaren Adoptivsohn Nicolo, der mit Vorliebe schweigt und Nüsse knackt, geht es ja zunächst gesittet und stilvoll zu. Bis nach einem merkwürdigen Bruch in der Handlung der Erzählung Nicolo sich in ein mitleidloses Monster verwandelt. Sein großherziger Stiefvater, der Unternehmer  Antonio Piachi ermordet den satanischen Stiefsohn und wird ohne Absolution hingerichtet. So will es Piachi in Kleists Novelle, um »Nicolo noch in der Hölle verfolgen zu können«.

Kristin Schulz, die das Heiner-Müller-Archiv in der Humboldt-Archiv leitet, hat mit dem Kleist-Stoff Motive aus ›Der Findling. Wolokolamsker Chaussee 5‹  verwoben, worin Heiner Müller in Anlehnung an die Kleist-Novelle seine Enttäuschung über die DDR-Verhältnisse nach 1968 verarbeitete. Im Musiktheater ›Der Findling‹ tritt dann als konsequente Fortsetzung aller Enttäuschungen und Illusionen der ›gute‹ Unternehmer Piachi nicht mehr als Person auf, sondern als technischer Großapparat Rosa Röhre. Der Monsterandroid selbst wird zur begehbaren Figur.

So waren die 50 Zuschauer auch laufend unterwegs, um dem Spielgeschehen am Becken und in der Werkstatt zu folgen.  Neben den lyrischen Szenen, mit den rosa Akteurinnen am langen Wasserbecken gibt es in dem Stück wunderbare komödiantische Szenen. Klara, eine Ururenkelin von Xaviera, der Mätresse des Bischofs, lebt als Erbin des Piachi-Imperiums über der Rosa Röhre. Sie ordnet Nüsse – ein Motiv aus Kleists Novelle, in welcher  Nicolo aus Spielsteinen ein Anagramm der Namen Nicolo / Colino legt, was dramatische Folgen hat.

Klara sendet auch Nachrichten durch die Röhren nach unten zur langen Wasserrinne. Dort liegen dann auch wieder Nüsse mit eingesteckten Liebesbriefen der Kleistschen Frauenfiguren wie in chinesischen Glückskeksen.

Und Klara hätschelt eine Puppe aus Computerplatinen, die sie in einen Einkaufswagen bettet. Währenddessen arbeitet in ihrer Werkstatt-Wohnung über der Rosa Röhre ein Mechaniker in gelber Gummihose, spannt Werkstücke in den Schraubstock, bearbeitet sie, schraubt hier, feilt dort.

Als wir mit dem Fahrstuhl nach unten fuhren, fragten wir eine Regie-Assistentin, ob der Mechaniker ein Schauspieler sei und zur Inszenierung gehöre. Sie antwortete: »Nein, das ist eine Werkstatt, in der er immer arbeitet, also auch während der Proben. Wir haben ihn dann gefragt, ob er nicht auch während der Vorführung dabei sein möchte. Und nun ist er eigens  für uns gekommen.«

Das Stück endete mit einer Tränen-Performance, eine der Vokalistinnen sang herzbewegend und vergoss dabei Tränenfontänen, die aus einem kleinen Tank auf ihrem Rücken gespeist wurden. Und dann rollte die große Welle im 250 Meter langen Wasserbecken. So endete ein Musiktheater, das man sich trauriger und schöner nicht vorstellen kann.

Heute Abend ist Premiere. Es hieß, dass alle Vorführungen ausverkauft seien. Aber versuchen sollte man es trotzdem! In jedem Falle muss dieses Stück viel länger gespielt werden. Mehr Menschen müssen es sehen, als die 5 x 50, die für jede Aufführung technisch zugelassen sind.

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Weitere Vorstellungen: 20 August, 21. August, 25. August und 27. August 2010, 20 Uhr
In der Versuchsanstalt für Wasser- und Schiffbau (Rosa Röhre)
Schleuseninsel / Müller-Breslau-Straße, Berlin-Tiergarten
Eintritt: 15 Euro, ermäßigt 10 Euro,
Telefon:  030 – 40 98 31 95
Reservierung dringend empfohlen!

(BK / JS)

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https://blogs.taz.de/schroederkalender/2010/08/19/ein_fulminanter_findling/

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kommentare

  • Lieber Obergutachter,
    nach Betrachtung der Bilder von Falke und Sperber, korrigiere ich meine Schilderung und lass einen Sperber das türkische Täubchen schlagen. Das Staubgrau der Zeichnung des Vogels ist mir heute noch in bildlicher Erinnerung.

  • @ Matthias Mala:
    Die Schilderung des Kampfverlaufs lässt mich vermuten, dass der Greif ein Sperber war. http://de.wikipedia.org/wiki/Sperber_%28Art%29

    Der Flug zum Kirchturm ist allerdings für Sperber untypisch. Turmfalke?
    http://de.wikipedia.org/wiki/Turmfalke Für den ist aber eigentlich die Beute zu groß.

    Schauen Sie sich doch mal die Bilder auf den verlinkten Wikipedia-Seiten an. Da ist zufällig auch ein Sperber mit einer Türkentaube zu sehen.

    … und als Nachtrag für Barbara und Jörg:
    http://de.wikipedia.org/wiki/M%C3%A4usebussard

  • Liebe Barbara, lieber Jörg,

    ich wollte euch hiermit nur auf ein soeben erschienenes Buch hinweisen, das die Debatte über die Waa’da aufnimmt, also das, was Andreas Biss im März-Buch “Wir hielten die Vernichtung an” über ihre Aktivitäten zur Rettung von Juden in Budapest schrieb.

    Andreas Biss ist ja tot, ich erinnere mich, das einer der wenigen, die einen Nachruf veröffentlichten, Heinz Galinsky war.

    Das Buch, auf das ich euch hinweisen möchte, heißt: “Geschäfte mit dem Teufel” und ist von dem englischen Historiker Ladislaus Löb, der 1944/45 mit einem der von der Waa’da “freigekauften” Güterzüge in die Schweiz gelangte.

    gruß

    h.h.

    P.S.: Gibt es noch ein März-Biss-Buch mit dem Heilmann-Vorwort? Letzteres habt ihr doch nur zum Teil in euren blog gestellt, oder?

  • Am 24. September 2000 beobachteten Ruth und ich folgendes, ich habe es seinerzeit in meinem Internet-Experiment festgehalten:

    Als Ruth und ich über den Markt gingen, flog mich eine Taube an streifte mein linkes Bein und fiel kurz hinter mir zu Boden. Erschrocken blieben wir stehen. Die Taube kullerte und flatterte, hatte drei Flügel, dann vier. Tollten die beiden Vögel, in einer herbstlichen Balz? Erst im nächsten Blick sah ich, rief, ein Habicht! Dann sah ich den Falken, in seinen Fängen das türkische Täubchen, fast so groß wie sein Jäger. Es schlug mit dem Flügel. Der Falke beäugte mich irritiert. Hob an, um weiterzufliegen, doch der Flügelschlag des Täubchens zog ihn zu Boden. Ein paar Schritte weiter rastete er erneut. Drückte sein Opfer fest zu Boden und setzte sich aufrecht darauf. Zeigte seine schöne Zeichnung. Jetzt schwand die Lebenskraft des Täubchens. Todeszucken der Beinchen. Kurz zupfte der Falke mit dem Schnabel an seiner Brust. Flaum hing ihm im Schnabel. Dann flog er auf, die Beute fest in den Fängen. Doch es reichte noch nicht, um aufzusteigen. Unter den Kastanien schwebte er zwischen die Bänke des leeren Biergartens. Wir gingen ihm nach, erreichten ihn nicht mehr. Er flog hoch. Zwischen den Ästen einer Kastanie hindurch stieg er auf zum Turm der Heilig Geist Kirche.

  • Mit Verlaub, es sind Fotos eines Mäusebussards. Der jagt vom Ansitz und verzehrt seine Beute meist direkt. Turmfalke und Habicht schlagen aus dem Flug und entfernen sich mit ihrer Beute. Wer mehr wissen will, findet es sicherlich im www.

  • Lieber Matthias, lieber Wolfgang,

    da Ihr es ja selber nicht genau wisst, ob Habicht, Mäusebussard oder Falke, müssen wir jetzt auf das Votum eines Obergutachters warten 🙂

    Zwei Jungs aus der Zuschauertraube schrieen: »Ein Milan! Ein Milan!« Das kann man aber definitiv ausschließen.

    Wie der Raubvogel die Maus zerriss, haben wir auch nicht ins Blog gestellt, um die zarten Nerven der Betrachter nicht zu belasten. Die Natur ist eben grausam – nicht nur die Menschennatur bei Kleist.

    Herzliche Grüße
    Barbara und Jörg

  • Ein wunderbares Vogelphoto! so die Vogelfreunde aus Kreuzberg. Aber ist es nicht eher ein Habicht (oder ein Mäusebussard)? Im Winter saß auf dem schneefreien Dach des Blaumeisennistkastens (direkt am Fenster in Matthias Schlafzimmer) ein Wanderfalke und verspeiste bzw. zerrupfte eine Taube. Ihr Blut spritzte bis ans Fenster. Es war entsetzlich, aber auch sehr interessant.

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