vonSchröder & Kalender 21.11.2014

Schröder & Kalender

Seit 2006 bloggen Schröder und Kalender nach dem Motto: Eine Ansicht, die nicht befremdet, ist falsch.

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Es ist neblig, wir sehen nicht, wie der Bär flattert.

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Gestern gingen wir spazieren, kauften Schnürsenkel und zwei Bücher im Antiquariat, in denen wir später auf dem Sofa lasen und dabei heisse Schokolade tranken. Zu den schönsten Vergnügungen gehört ja das Blättern in Büchern mit den unterschiedlichsten Texten und Themen aus obskuren Provenienzen. Besonders amüsierten uns dieses Mal Texte aus dem ›Arzt im Altertum‹. Hier ein Zitat aus dem Kapitel ›Wahnsinn‹ des ›Aretaeus, de causis et signis morborum chronicorum  I, 6: »Auch der Wein kann ja im Rausch bis zur Verrücktheit erhitzen; sogar Essbares erzeugt Raserei, wie Alraun oder Bilsenkraut. Aber all das fällt noch nicht unter den Namen Wahnsinn; so plötzlich wie es gekommen ist, so schnell verschwindet es wieder. Der Wahnsinn aber dauert an.

Die Wahnvorstellungen sind vielfältig: Begabte und Studierte treiben Astronomie ohne Anleitung, schaffen philosophische Systeme, dichten, angeblich von den Musen inspiriert. Auch in den Krankheiten bewährt sich eine gute Bildung. Ungebildete fühlen sich als Lastträger, Töpfer, Zimmerleute oder Steinmetzen. Ganz sonderbare Wahnvorstellungen kommen vor: Einer glaubte, er sei ein Krug und fürchtete sich vor dem Aufschlagen; ein anderer, der sich für einen Lehmziegel hielt, trank nicht, um nicht von der Nässe aufgelöst zu werden. Folgender Fall wird von einem Zimmermann erzählt: Zu Hause war er ein besonnener Handwerker, fähig das Holz abzumessen, zuzuhauen, zu glätten, einzupassen, mit Pflöcken zusammenzufügen und fachkundig ein Haus zu erstellen, mit den Auftraggebern zu unterhandeln, einen Vertrag abzuschließen und für seine Arbeit einen gerechten Lohn einzuhandeln. So war seine Gemütsverfassung auf dem Arbeitsplatz. Ging er aber je aus, auf den Markt oder ins Bad oder zu einem anderen Geschäft, so seufzte er zuerst, im Begriffe sein Werkzeug wegzulegen, dann lud er es im Weggehen auf die Schulter. Kaum hatte er seine Hausgenossen, die Arbeit und den Zimmerplatz aus den Augen verloren, bekam er einen Anfall von völliger Raserei; kehrte er wieder zurück, so war er sogleich wieder der besonnene Mann. So verknüpft waren hier Werkplatz und Gemütsverfassung.

 

 

Der Arzt im Altertum. Griechische und lateinische Quellenstücke mit der Übertragung ins Deutsche. Herausgegeben von Walter Müri. Ein Band der Tusculum-Bücher. 1938

›Der Arzt im Altertum. Griechische und lateinische Quellenstücke mit der Übertragung ins Deutsche‹. Herausgegeben von Walter Müri. Ein Band der Tusculum-Bücher. 1938

216 Seiten. Leinen. Ernst Heimeran Verlag, München.

Aus dem Inhalt: Aufgabe und Pflichten des Arztes. Am Krankenbett. Die Krankheit. Chirurgie. Diätetik.

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BK / JS

 

 

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https://blogs.taz.de/schroederkalender/2014/11/21/der-wahnsinn-aber-dauert-an/

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kommentare

  • Ein sehr modernes Anfallsleiden wird da beschrieben; oder besser gesagt, das, was wir heute vorfinden in Gestalt der ständigen Verfügbarkeit, ist schlicht eine Fortschreibung des Leidens jenes Zimmerers. Man stelle sich nur vor, man nehme einen dieser Leut’ sein Händi weg: der Anfall folgt der Wegnahme auf den Fuß.
    Servus M. M.

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