vonSchröder & Kalender 10.03.2017

Schröder & Kalender

Seit 2006 bloggen Schröder und Kalender nach dem Motto: Eine Ansicht, die nicht befremdet, ist falsch.

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Der Bär flattert in östlicher Richtung.
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Eine Wanderschaft der besonderen Art haben sich der Schriftsteller Gerhard Henschel und der Reporter und Fotograf Gerhard Kromschröder vorgenommen: Einen Spaziergang durch die Heide von Bargfeld nach Nartum – zu den Wohn- und Wirkungsstätten der beiden literarischen Nachkriegskoryphäen Arno Schmidt und Walter Kempowski. Zehn Tage dauerte dieser Fußmarsch, der beim inzwischen verrotteten Wohnwagen beginnt, den Arno Schmidt sich auf sein Grundstück stellte, um in Ruhe arbeiten zu können, und in Kempowskis großbürgerlichen Spiegelhalle mit Bechstein-Flügel endet.

 

 


Alle Fotos: Gerhard Kromschröder
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Auf dem Weg durch Wald und Heide – zwischen den beiden Antipoden – vorbei an großen Ackerschlägen, Kuhweiden, Dörfern, Gewerbegebieten und Puffs stoßen die beiden auch auf die Tatorte der Vergangenheit wie das KZ Bergen-Belsen.

Nicht weit davon entfernt versteckte sich Adolf Eichmann vier Jahre vor seiner Flucht über die »Rattenlinie« nach Argentinien. Er arbeitete als Hühnerhalter, seinem Reichsführer Heinrich Himmler – ein diplomierter Hühnerzüchter – auch in diesem Metier treu bis in den Tod.

Wir zitieren aus der ›Landvermessung‹: »An die Zeit ›in diesem wunderschönen Heideland‹ dachte Eichmann später gern zurück. ›Sonntags fuhr ich mit dem Fahrrad ins Dorfgasthaus in die Nähe von Celle‹, schrieb er während seiner Haftzeit in Jerusalem. ›Manchmal mußte ich grinsen, wenn der Gastwirt mir von dem Geschreibe der Lokalzeitung über Eichmann erzählte. „Wahrscheinlich ist alles erlogen und erdichtet“, pflegte er zu sagen, – und mich machte das sehr froh und zufrieden.‹ Nach Eichmanns Verhaftung und der Aufdeckung seines Fluchtwegs brachen Kriminalbeamte und Journalisten nach Altensalzkoth auf und befragten die Einwohner. Sie sagten übereinstimmend, daß Eichmann zurückhaltend, einzelgängerisch und unauffällig gewesen sei. Nur ein einziges Mal hatte er sich fotografieren lassen: als Teilnehmer einer im Landhotel Helms feiernden Hochzeitsgesellschaft, und da blickte er zu Boden. Inzwischen ist bekannt, welch geringen Wert die bundesdeutschen Behörden auf die Fahndung nach Eichmann legten. Vielleicht hätte er in Altensalzkoth noch viel länger inkognito leben können als in Buenos Aires. 2010 fragte das Hamburger Abendblatt einen ehemaligen Nachbarsjungen, woran er sich noch erinnere, und er sagte, daß Eichmann seine Hühner nicht mit ›tijuk, tijuk, tijuk‹ gelockt habe, wie es üblich gewesen sei: ›Eichmann habe nach den Hühnern gepfiffen wie nach einem Hund. Und die Hühner haben pariert.‹«

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Jedoch nicht nur das Grauen aus großer Zeit, sondern auch das leise Frösteln oder – je nach Veranlagung – laute Lachen über die geschmacklichen Gestaltungskräfte der Heidebewohner sind frappant. Gerhard Kromschröders Fotos sprechen mehr über deutsche Befindlichkeiten als tausend Worte. Zusammen mit Gerhard Henschels literarischen und kulturgeschichtlichen Recherchen präsentiert sich die ›Landvermessung‹ wie ein Hausbuch deutschen Denkens und Trachtens in der Nussschale.

Gerhard Henschel (Text) und Gerhard Kromschröder (Fotos), ›Landvermessung: Durch die Lüneburger Heide von Arno Schmidt zu Walter Kempowski. Ein Wandertagebuch‹. Erschienen bei der Edition Temmen.

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(GH / GK /BK / JS)

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