vonSchröder & Kalender 13.06.2020

Schröder & Kalender

Seit 2006 bloggen Schröder und Kalender nach dem Motto: Eine Ansicht, die nicht befremdet, ist falsch.

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Der Bär flattert in westlicher Richtung.
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Jörg Schröder ist heute Nacht um 2 Uhr in Berlin gestorben. Sein Tod ist ein großer Verlust, denn wir lebten und arbeiteten seit vierzig Jahren zusammen. Wir waren ein Kugelmensch, jenes von Platon überlieferte mythische Wesen mit kugelförmigem Rumpf, vier Händen und vier Füßen und zwei Gesichtern, die in unterschiedliche Richtungen blickten. Das gab uns Kraft und Wagemut für alles, was wir in Angriff nahmen. Unsere Freunde, ebenso wie die Leserinnen und Leser von ›Schröder erzählt‹, kennen Jörg Schröder und sein Leben sehr gut, daher wissen sie von unserer engen Verbundenheit. In unserem Work in Progress, den 74 Folgen, versuchten wir, so ehrlich zu erzählen, wie es nur geht. So, wie es Jörg einmal in einem Interview gesagt hat: »Wir wollten näher an die Wahrheit ran. Die ganze Wahrheit kennt man ja nicht, aber wir wollten näher ran. Dazu gehörte natürlich dieses Über-sich-selber-Reden, aber eben auch über Leute, denen man begegnet.«

 

Jörg war ja nicht nur Schriftsteller, sondern auch Verleger und Buchgestalter. Er erfand das März-Corporate-Identity-Raster, das von der zartesten bis zur brutalistisch-plakativen Typographie alle Möglichkeiten offen lässt. 174 Bücher erschienen im März Verlag, dazu noch zahlreiche Titel bei Melzer und Olympia Press.

 

Jörg Schröder liebte seine Arbeit, war trotz seiner Krankheiten immer optimistisch und voller Ideen. Ich habe mehr als mein halbes Leben mit ihm zusammen verbracht und werde ihn sehr vermissen. Es war ein Geschenk, mit ihm vierzig Jahre leben zu dürfen.

 

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Der MÄRZ-Verleger Jörg Schröder
 * 24.Oktober 1938 † 13. Juni 2020

. Foto: Malte Ludwigs

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Für alle die sich noch einmal erinnern möchten, wie Jörgs Arbeitsleben verlief, habe ich nachfolgende Vita verfasst. Wer es gern noch ausführlicher hätte, kann dies in im Anhang der 2018 bei Schöffling & Co. erschienenen Neuausgabe von ›Siegfried‹ -Neuausgabe unter dem Titel im Anhang ›Das ganze Leben · Jörg Schröder Vita,‹ aufgezeichnet von Barbara Kalender‹ (173 Seiten mit zahlreichen Abbildungen) nachlesen.

 

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Am 24. Oktober 1938 wurde Jörg Walter Paul Schröder in Berlin in der Geburtsklinik im Wedding geboren, heute heißt sie Charité Campus Virchow-Klinikum. Er wuchs in Berlin-Niederschönhausen auf und erlebt dort auch das Kriegsende.


Foto: Kurt Schröder

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1948 floh Jörg mit seiner Mutter und deren neuem Mann Siegfried Neusch van Deelen in den Westen, nachin Rinteln an der Weser. Weitere Stationen waren , Bonn und Düsseldorf. Nach einer Buchhändlerlehre bei der Schrobsdorff’schen Buchhandlung, besuchte er die Werbefachschule in Köln, arbeitete er als Werbeassistent im Westdeutschen Verlag und nahm eine Stelle als Werbeassistent bei der Werbeagentur Lorenz und Bogo in Bensberg an. Dort erfand er den Slogan: »Doornkaat – heiß geliebt und kalt getrunken.«

Mitte 1962 begann Schröder beim Verlag Kiepenheuer & Witsch in Köln-Marienburg als Werbeassistent. Im Dezember 1964 hörte er dort als Werbeleiter und Pressechef auf. Als Autodidakt gestaltete er grafische und typographische Arbeiten, entwarf Kataloge und Anzeigen für Zeitungen.

Nach einer kurzen Zeit bei der Versandbuchhandlung Josef Rieck in Aulendorf wurde Schröder Verlagsleiter im Joseph Melzer Verlag. Mit der Veröffentlichung des Bestsellers ›Die Geschichte der O‹ von Pauline Réage konnte Schröder den Melzer Verlag sanieren. Folgende Autoren wurden veröffentlicht: Bazon Brock, Jeroen Brouwers, Charles Bukowski, Andreas Burnier, Jan Cremer, Casimir Dukahz, Felix Greene, LeRoi Jones, Jack Kerouac, Esteban Lopez, Huga Raes, Michael Rumaker, Jan Gerhard Toonder, Hans Tuynman u.v.a.

 

1968 gründete er die Olympia Press Deutschland und entwarf ein neues Umschlagkonzept für die Reihe. Er erfand das Oval, umzogen von zwei schwarzen Linien, eine Wiederholung des Rahmenschmucks, darin wurde ein Foto abgebildet.

In der Nacht vom 18. auf den 19. März gründeten Schröder, Beitlich, Brand, Hansal und Heinzlmeier den MÄRZ Verlag als »kollektive Selbsthilfe«. KD Wolff kam später dazu. Die Anthologie ›Acid‹ erschien als erster Titel bei MÄRZ. Eine Auswahl der MÄRZ-Titel findet man im tazblog unter MÄRZ-Zitate.

Ursprünglich wollte Jörg Schröder seine Bücher individuell gestalten. Dann entwarf er den Umschlag von Roter Stern über China von Edgar Snow: gelber Einband, darauf ein großer roter Stern, dazu eine brutalistische schwarze Schrift. Diese Bastardschrift hieß damals ›Fette Block‹, heute einfach nur ›Block‹, die Dada-Typographen hatten sie häufig benutzt.

Hans Peter Willberg schrieb: »Ein Zeichen von großer Sicherheit ist es, wenn Verleger alles auf eine Karte setzen, wie Jörg Schröder mit der Ausstattung seines März Verlages. Wenn man der Typologie folgt, die für die Umschlaggestaltung vorgeschlagen wurde: Uniformieren, Typisieren, Individualisieren, so wäre der Suhrkamp-Verlag eindeutig der Typisierung zuzuordnen, die Büchergilde wohl der Individualisierung. Die Umschläge des März Verlages wären dann als uniformiert zu betrachten. Doch die Uniform ist abwechslungsreich […] Natürlich ist viel stärker als bei den anderen Beispielen jeder Titel zuerst als Verlagsprodukt und dann erst als Buch-Individuum zu erkennen. Doch das heißt nicht, dass keine Neugier, keine Erwartungshaltung erweckt wird. Auch die massive Sprache dieser Grafik kann differenzierte Töne von sich geben. Das Verhältnis zwischen Verleger und Grafiker ist hier noch inniger als sonst.«


Einbandgestaltung Jörg Schröder
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Einbandgestaltung Jörg Schröder mit einem Foto von Media-Three Lions.

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Frühjahr 1970: Die Bismarc Media bezog die fünfte Etage im Frankfurter Westend über dem März Verlag.

Diedrich Diederichsen schrieb 1984 in einem Aufsatz für den Spiegel: »So wie Schröder in seinen Erzählungen immer wieder das Geschäftliche an der Kultur hervorkehrt, so betreibt er selber bizarre literarische Geschäfte, in verschiedenen literarischen Genres. Einmal hatte er eine Agentur gegründet, die ›Bismarc Media‹, deren Aufgabe es war, nichts zu produzieren. Der Geschäftsführer sollte bloß hochtrabend daherschwafeln, aber nie konkret werden. Leider hielt der angestellte Geschäftsführer [Ernst Herhaus] dies nicht lange durch. Früher oder später fing er an, sich Projekte auszudenken. Auf jeden Fall ein klarer Fall von Konzept-Kunst, von konkreter Poesie in Finanzen. Und das Jahre bevor Baudrillard überall seinen philosophischen Horror vor dem Produzieren verbreitet.«

 

Mai bis Juni 1972: Im Herrenhaus von Niederflorstadt wurde der Film ›Immobilien‹ gedreht. Otto Jägersberg und Jörg Schröder hatten das Drehbuch geschrieben, Dramaturg war der junge Helmut Dietl, der spätere Regisseur von Kir Royal. Im Film ging es einerseits um den Verkauf eines Herrenhauses, ein zweiter Erzählstrang handelte von »Lebe grün«, einem korrupten Bio-Versender avant la lettre. Gedreht wurde mit Starbesetzung: Maria Schell, Karlheinz Böhm, Christine Kaufmann, Hans von Borsody, Eva Mattes, Wolfgang Kieling, Siegfried Wischnewski, Veit Relin, Alwy Becker, Dieter Borsche, Lisel Christ u.v.a. »Fassbinder für feine Leute« titelte die Süddeutsche Zeitung nach der Sendung 1973 im ZDF.

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Oktober 1972: ›Siegfried‹ wurde auf der Buchmesse präsentiert. Jörg Schröder erzählte Ernst Herhaus sein Leben. Diverse Personen, die in ›Siegfried‹ erwähnt wurden, beantragten einstweilige Verfügungen. Es kam zu Vertriebsverboten für das Buch und zahlreichen Prozessen.
Zitat Jörg Schröder: »Zum Schluss blieb nur noch die langwierigste und groteske Prozessposse übrig, die der renommierte Anwalt für Urheberrecht, Ludwig Delp für seine Mandantin gegen mich führte. Fünf Ausgaben mit zwei Namensvarianten, eine mit Papier überklebte sowie eine mit Textblockaden versehene Ausgabe und schließlich eine mit Schrägstrichen statt Namen zensierte Edition sind diesem Verfahren geschuldet. Erst Anfang der Achtziger wurde das Verfahren vom einundzwanzigsten Zivilsenat des Oberlandesgerichts in München beendet.« Die Gesamtauflage beträgt inzwischen 105 Tsd.

 

Herbst 1972: März meldete Vergleich zur Abwendung eines Konkurses an. 1973 wickelte seine Mutter mit ihm den Konkurs des Verlags ab.



Juni 1974: Der März Verlag wurde als GmbH neu gegründet, Geschäftsführerin war Edith Neusch van Deelen.

Herbst 1974 bis 1980: Zahlreiche März-Titel erschienen als Neuausgabe und Lizenz bei Zweitausendeins. 1977 gab Jörg Schröder ›Die Reise‹ von Bernward Vesper heraus.

Juni 1978: Jörg fuhr nach Triangel, um die Schwester von Bernward Vesper zu besuchen. Heinrike Stolze übergab ihm den später so genannten »Triangel-Nachlass«, der als Kryptonachlass jetzt in Marbach liegt. Diese Materialien dienten auch als Ergänzungen zur ›Reise‹ und wurden in der ›Ausgabe letzter Hand‹ veröffentlicht. Die Weltauflage des Buches inklusive Lizenzen und Übersetzungen beläuft sich inzwischen auf 200 Tausend.



Oktober 1980: Nachdem ›Die Eingeweide der SPD‹ in der TransAtlantik erschienen war, druckte nur wenige Tage später die tageszeitung die Geschichte nach. So begann die zweite Deutsche Friedensbewegung. Später erschien ›Cosmic‹, das Jörg Schröder Uwe Nettelbeck erzählt hatte.

Oktober 1981: Jörg Schröder kündigte die Zusammenarbeit mit Zweitausendeins aus wichtigem Grund wegen Programm-Divergenzen. Im Frühjahr 1982 startete der März Verlag wieder im Buchhandel. Seit dieser Zeit lebten und arbeiteten wir zusammen.

Buchmesse 1984: Der März-Messestand mit dem Bücherberg diente der dpa als Aufmacher zur Buchmesse. Er wurde in der ARD-Tagesschau und in vielen Tageszeitungen gezeigt.

6. Oktober 1985: Erstsendung der Spieldokumentation ›Die März Akte‹ während der Buchmesse. 1986: Nachdem der Film ›Die März Akte · Einblicke in die Literaturszene‹ noch in weiteren ARD-Programmen gelaufen war, erhielten der Regisseur Peter Gehrig und der BR-Redakteur Axel von Hahn den Adolf-Grimme-Preis mit in Silber.
Aus der Begründung der Adolf-Grimme-Preis-Jury: »Eine aus dem Rahmen fallende Dokumentation, die einen langen Atem hat, die Spaß macht und die auf mehreren Ebenen spielt. Jörg Schröder, der Verleger des März Verlags, ist der Hauptdarsteller. In den Achtundsechziger Jahren ist dieser Verlag mit zahlreichen provozierenden Titeln zwischen Belletristik, Politik und Porno zu einem Forum der Linken geworden.«

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Foto: Jörg Schröder und Barbara Kalender mit Rettungsdienst-Anzeige. (c) März Verlag

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August 1986: Wir entwickelten das Konzept für den »März-Rettungsdienst« von Barbara Kalender«. Anschließend entwarf Jörg den Anzeigentext. Als Headline wählte er ein Zitat aus einem Aufsatz von Arno Schmidt über Karl Philipp Moritz: »Wer ’ne Bude auf’m Markt hat, muss eben schreien!«

Ein Zitat von Diedrich Diederichsen in Spex lautete: »Hier also die Eckdaten des Mannes, der möglicherweise auch Deutschlands größter Erzähler der letzten fünfzehn Jahre genannt zu werden verdient: Jörg Schröder ist der Erfinder des erweiterten Verlegertums, in ihm vermischten sich, seit er den Melzer Verlag in den Sechzigern quasi übernahm und später per Palastrevolution daraus seinen MÄRZ Verlag machte, naiv-idealistisches Unternehmertum (der Unternehmer als Abenteurer, den die systemtragenden Legenden immer beschwören und der, wenn er einmal wirklich irgendwo auftaucht, natürlich immer wieder schön und lehrreich und tragisch am System scheitern muss) mit paranoisch-kritischer politischer Klugheit. Mit Siegfried, einem Buch, das nach seinem Erscheinen mit Verleumdungsklagen in ungekannten Ausmaßen überzogen wurde und auch heute nur mit geschwärzten Zeilen erhältlich ist, erfand Schröder eine neue Ausdrucksform. Statt Geschichten per Büchermachen zu schreiben, erzählte er nun seine Geschichten. Und zwar, wie Kultur und Kulturpolitik von Menschen gemacht werden und wie alles mit allem zusammenhängt.«

Wegen Nach Schröders Jörgs erstem Herzinfarkte meldete ich 1987 den Konkurs des März Verlags beim Amtsgericht in Lauterbach an. Anschließend verhandelte ich mit den Gläubigern.

September bis Oktober 1987: Das Archiv des März Verlages wurde in das Deutsche Literaturarchiv Marbach eingeliefert. Jörg und ich erstellten zu den Materialien des März Verlags von 1969 bis 1987 eine Liste. Es wurden 1197 Konvolute erfasst und kommentiert. Nach dieser Ordnungsliste wird in Marbach teilweise noch heute gearbeitet.

Februar 1990: Umzug nach Bayern. Die Ankündigung unseres Erzählvorhabens ging an alle Freunde und »März-Retter« per Drucksache heraus. Zitat: »Zum Glück gibt es jetzt eine Technik, mit der man einzelne Texte in vernünftiger Zeit ordentlich drucken kann. Das Setzen, Drucken, Zusammentragen, Binden, Fakturieren und Versenden wird pro Exemplar durchschnittlich eine Stunde in Anspruch nehmen. Und weil ich ein Meister meines Fachs bin, nehme ich den durchschnittlichen Meisterlohn von 43,– DM plus 7,– DM Material- und Portopauschale. Erzählt wird natürlich wie immer gratis.« ›Schröder erzählt‹ war das erste Desktop-Publishing-Projekt, das damals realisiert wurde.

Mai 1990: Die erste Folge mit dem Titel ›Glückspilze‹ stellten wir in unserer kleinen Werkstatt her und verschickten es an 350 Subskribenten.


Jörg Schröder auf dem Weg zur Post, um die neue Folge zu versenden, Berlin 2006. Foto: Barbara Kalender.

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24. September 1991: Nach einem weiteren Herzinfarkt heirateten wir standesamtlich, jeder behielt seinen Nachnamen.



9. Mai bis 30. November 1998: Die Jahresausstellung ›Protest! Literatur um 1968‹ wurde im Deutschen Literaturarchiv gezeigt. Der umfangreiche Katalog, herausgegeben von Ulrich Ott und Friedrich Pfäfflin, enthielt ein Kapitel MÄRZ sowie weitere von der Verlagsarbeit beeinflusste Passagen über Avantgarde und ›Subkultur‹ (Rygulla: ›Fuck you‹, Brinkmann / Rygulla: ›Acid‹ und Schröder: ›März-Texte‹), Der postmoderne Impuls (Fiedler, ›Trivialmythen‹), Literaturproduzenten, Re-Visionen (Vesper, ›Die Reise‹), ›Erziehung zum Ungehorsam‹ (Bott) und ›Sexfront‹ (Amendt).

Sommer 1999: Die Verwertungsgesellschaft Wort verlangte die Rückzahlung von Pauschalen, die sie für die Folgen von ›Schröder erzählt‹ bezahlt hatte, weil es sich dabei angeblich nicht um Sachbuchtitel handle. Albrecht Götz von Olenhusen übernimmt den Fall.

Dezember 1999: In der Rechtssache VG Wort vs. Jörg Schröder hatte die 7. Zivilkammer des Landgerichts München I Professor Wolfgang Raible von der Universität Freiburg zum Gutachter bestellt. Es ging um die Frage, ob die Folgen des Werks Schröder erzählt Sachbücher oder belletristische Texte sind. Zitat aus Raibles Gutachten: »Zu den Regeln einer Autobiografie gehört es nicht nur, dass der Autor sich immer in einer bestimmten Weise stilisiert durch das, was er sagt, und das, was er nicht sagt (Polheims ›Fiktionalität‹ – dies war der Gutachter der VG Wort, d.V.), sondern dass er offen über sich selber reden darf. Einer der ersten Verfasser einer modernen Autobiographie, der Allround-Renaissance-Künstler Benvenuto Cellini (1500 – 1571), spart weder seine zahllosen sexuellen Eskapaden aus noch die diversen Tötungsdelikte, die er begangen hat. Und doch hat Goethe seine Vita übersetzt; Jacob Burckhardt hat sie in seiner Kultur der Renaissance in Italien als wichtige Sachquelle benützt und geschätzt. An der Sachhaltigkeit (res factae, non fictae) der Schröderschen Autobiografie kann im übrigen keinerlei Zweifel bestehen. Jörg Schröder ist eine Persönlichkeit der Zeitgeschichte und handelt – wie analog Cellini – laufend von seinen Begegnungen mit anderen Personen der Zeitgeschichte.«



2001: Das Deutsche Literaturarchiv Marbach übernahm das Schröder erzählt-Archiv aus den Jahren 1990 bis 2000. Wir beginnen die Manuskripte in die grünen Kästen des Marbacher Literaturarchivs zu »betten«.

Mai 2001: ›Willkommen!‹, die erste Folge der Schwarzen Serie wurde in einen schwarzen Chromolux-Einband eingebunden und zusammen mit der Treuegabe versandt. In einem Brief an die Subskribenten erklärten wir: »In diesem Zusammenhang bekräftigen wir erneut: Es wird neben den Folgen keine Gesamtausgabe geben, solange die Figuren von Schröder erzählt ihr Wesen treiben.«



2005: Umzug nach Berlin-Wilmersdorf.

Juni 2006: Als im Web die interaktiven Tagebücher, kurz Blogs genannt, ins Kraut zu schießen begannen, sprach uns Mathias Bröckers an. Er sollte den Internetauftritt der tageszeitung relaunchen und meinte: »Ihr wart Ende der Achtziger mit Desktop Publishing ganz vorn, schreibt doch jetzt auch ein Autorenblog für die taz.« Das ließen wir uns nicht zweimal sagen und begannen mit Schröder & Kalender. Der Erfolg war und ist erfreulich. Unsere Mischung aus Glossen, witzigen Fotos und Alltagsminiaturen gefallen den Lesern. Bis heute haben wir 1.412 Beiträge gebracht.

September bis November 2006: In Köln fand die Ausstellung ›Außerordentlich und obszön. R.D. Brinkmann und die POP-Literatur‹ im Kunsthaus Rhenania statt. Die künstlerische Leitung hatte Uwe Husslein. Dem März Verlag war ein eigener Raum gewidmet. Wir beschickten die Ausstellung mit zahlreichen Büchern, Kunstwerken, Fotos und anderen Materialien.

8. August 2008: Unsere erste Kolumne in der jungen Welt handelte vom Bienensterben. Es erschienen 100 Kolumnen.

Januar 2009: Wir stellten eine Jubiläumskassette von ›Schröder erzählt‹ für die The Widener Library der Harvard University her. Das Work in Progress steht in ca. 400 Bibliotheken von Subskribenten, Universitäten und Sammlungen, darunter denen von Library of Congress, Washington, Zentralbibliothek Zürich, ZKM Karlsruhe …

November 2009 bis Januar 2010: Der Showroom im Neuen Berliner Kunstverein (n.b.k.) zeigte sämtliche März-Erstausgaben des Verlags in Originalgröße auf zwei Tapetenbahnen. An der Schmalseite des Raumes lief ›Die März-Akte‹ und das Interview mit dem Verleger als Endlosschleife, die Schröder-erzählt-Jubiläumskassette stand im Raum auf einem Podest.

20. Juli 2011: ›Immer radikal, niemals konsequent. Der März Verlag – erweitertes Verlegertum, postmoderne Literatur und Business Art‹ von Jan-Frederik Bandel, Barbara Kalender und Jörg Schröder wurde von Philo Fine Arts Hamburg ausgeliefert. Darin sind alle 174 MÄRZ-Erstausgaben abgebildet und bibliografiert.
Einen Tag nach der Auslieferung besuchte uns Volker Weidermann, und am 24. Juli stand in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung die Homestory: ›Im offenen Wahnsystem‹.

Mai 2013: Jörg Schröder und ich gründeten die März Gesellschaft e.V., dreizehn Literaten und Künstler waren beteiligt. Im Juli wurde die Gesellschaft ins Vereinsregister des Amtsgerichts Charlottenburg eingetragen. Mittlerweile hat die Gesellschaft über 60 Mitglieder und 44 Jour fixe veranstaltet.

August 2013: ›Kriemhilds Lache – Neue Erzählungen aus dem Leben‹, illustriert mit farbigen Zeichnungen von F.W. Bernstein, erschien im Verbrecher Verlag.



Februar 2017: Der Verleger von Schöffling & Co. besuchte uns in Berlin. Während des Gesprächs erklärte Klaus Schöffling: »Die ›Siegfried‹-Ausgabe könnte durch Fotos, Faksimiles etc. erweitert werden.« Eine gute Idee, fanden auch wir. Die Siegfried-Neuausgabe erschien 2018 sowie zusammen mit ›Das ganze Leben · Jörg Schröder Vita‹ aufgezeichnet von Barbara Kalender (173 Seiten mit zahlreichen Abbildungen) in einem Band.

Mai 2018: Die letzte Folge ›Der Glücksgott‹ wurde ausgeliefert.

Von Mai 1990 bis Mai 2018 erschienen 68 Folgen von ›Schröder erzählt‹ nebst sechs Treuegaben in sieben Buchbinderkassetten, insgesamt 3.760 Seiten. Die Folgen wurden nach einem Konzept von Jörg Schröder gestaltet und im Desktop Verfahren hergestellt. Jörg Schröder war damals der erste, der die moderne Technik nutzte. Die Texte von ›Schröder erzählt‹ wurden mit denen der Brüder Goncourt, Benvenuto Cellinis ›Vita‹, Giacomo Casanovas Memoiren, Jules Vallès’ ›Jacques Vingtras‹ und Samuel Pepys’ Tagebüchern verglichen. Es gab in den letzten Jahren 816 Rezensionen.

Februar 2019: Die Universitätsbibliothek Leipzig, genauer: das Sondermagazin in der Bibliotheca Albertina, hat das Archiv der MÄRZ Gesellschaft e.V. Berlin übernommen, dazu gehören MÄRZ-Erst- und Lizenzausgaben, Sekundärliteratur, Herstellungs-, Vertriebs- sowie Buchhaltungs- und Firmenunterlagen. Außerdem erhält die UB Leipzig die Korrespondenz und alle Redaktionszustände der Folgen von ›Schröder erzählt‹ seit 2005 sowie MÄRZ-affine Kunstwerke – also praktisch alles, was mit unserem Lebenswerk zusammenhängt, zu dem natürlich das grafische Werk von Jörg Schröder und dessen gelb-rot-schwarzes MÄRZ-Design gehört.

Juli bis November 2019 fand die Ausstellung »50 Jahre MÄRZ Verlag«in der Universitätsbibliothek Leipzig statt.

v.l.n.r. Bibliotheksdirektor Prof. Dr. Ulrich Johannes Schneider, Barbara Kalender, Jörg Schröder und Prof. Dr. Thomas Fuchs, Leiter der Sondersammlungen und einer der beiden Ausstellungskuratoren. Foto: Thomas Kademann

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Jörg Schröder erlitt seit 1987 einige Herzinfarkte. Anstatt sich zu erholen, arbeitete er immer sofort weiter. Seitdem er wieder in Berlin lebte, wurde er wegen seines Herzleidens am Deutschen Herzzentrum des Campus Virchow-Klinkums behandelt.

Am 24. Oktober 1938 fuhr Edith Schröder mit dem Taxi von Niederschönhausen in die neue moderne Geburtsklinik des Weddinger Virchow-Klinikums, wo Jörg noch am selben Tag geboren wurde. Fast 82 Jahre später, am 11. Juni brachte ich ihn, ebenfalls mit dem Taxi, von Wilmersdorf ins selbe Krankenhaus, wo er am 13. Juni 2020 um 2 Uhr morgens gestorben ist.

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Barbara Kalender

 

PS: Soeben erschien im Spiegel ein Nachruf.

 

 

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kommentare

  • Liebe Barbara Kalender, diese nüchterne Zusammenfassung eines solchen Lebens hat mich berührt, und es erschüttert mich, dass Jörg Schröder für Sie und für die Welt nicht mehr da ist. In einem März bin ich geboren, mit MÄRZ in den Regalen meiner Kindheit aufgewachsen, mit 2001, TransAtlantik und Buchmesse – ein Frankfurter Kind der 60er und 70er Jahre. Und von hier und ganzem Herzen sende ich traurige und mitfühlende Grüße…

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