vonSchröder & Kalender 04.07.2020

Schröder & Kalender

Seit 2006 bloggen Schröder und Kalender nach dem Motto: Eine Ansicht, die nicht befremdet, ist falsch.

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Der Bär flattert in nordöstlicher Richtung.
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Dies ist ein Text aus ›Schöder erzählt‹: Wir machten uns auf die Suche nach dem Schlosspark und der Eiche namens ›Dicke Marie‹, in deren Schatten der Dichterfürst (Goethe) geruht haben soll. Von der Seeterrasse liefen wir Richtung Sechserbrücke, eine Bogenbrücke aus Stahl, welche die Einfahrt in den Hafen und die Mündung des Tegeler Fließes überspannt. Entlang des Fließes liegt im Hafen die schmale Humboldt-Insel, eine sechshundert Meter lange Aufschüttung auf der früher eine Hafenbahn verkehrte. Nach Schließung des Bahnverkehrs übernahmen Laubenpieper die Insel. Wie es in heutigen Zeiten so ist, mussten sie einem Düsseldorfer Immobilienunternehmer weichen, der dort an die achtzig Häuser errichten will, darunter sogenannte »Floating Houses« mit eigenem Bootsliegeplatz. In diesem Jahr sollte das Luxusprojekt eigentlich fertiggestellt sein. Wir sahen allerdings nur ziemlich angegammelte Kuben auf der Insel. Natürlich steht davor ein grelles Riesentransparent mit paradiesisch schwimmenden Häusern. Das Immobilienangebot scheint Jachtbesitzer nicht besonders zu interessieren.

Mit kindlichem Erstaunen, wundere ich mich immer wieder, dass ein Flüsschen wie das Tegeler Fließ einen so großen See füllen kann. Die Brücke über dessen Mündung heißt im Volksmund »Sechserbrücke«, weil in alter Zeit ein Fährmann die Berliner Ausflügler auf die andere Seite schipperte und er dafür einen Sechser kassierte. Nach dem Bau der Brücke betrug der Wegezoll dann fünf Pfennig, heute darf man gratis passieren.

Als wir die Brücke überquert hatten, fragten wir uns: »Wo geht ’s denn nun zum Schloss, links am See entlang, geradeaus, rechts?« Zwar gab es einen Wegweiser, aber der war zugesprayt von diesen Teenies, die überall ihre Kreativität unter Beweis stellen müssen. Was auf dem Schild gestanden hatte, war nicht mehr zu lesen. Daher entschieden wir uns für die falsche Richtung, bogen nach links ab wie die anderen Spaziergänger und die vielen Radler. Es war ein schöner Weg, er führte an der Großen Malche entlang, so heißt eine Bucht des Sees. Wir wanderten fröhlich am See entlang, denn es hieß ja zum Schloss seien es nur sechshundertfünfzig Meter. Wir sahen trotzdem keins, nur einen Ruderverein, einen Seglerclub nach dem anderen, ein Restaurant und ein Hannah-Höch-Denkmal, rechts lag der Freizeitpark Tegel. Kein Schloss!

An der »Dicken Marie« gaben wir auf. Den Spitznamen hatten die Humboldt-Buben dem Baum in Anspielung auf die Köchin der Familie gegeben. Die Eiche drückt nicht mehr die Schönheit, einige belaubte Äste ragen aus dem mächtigen kahlen Stamm, keine Rede von einer prächtigen Baumkrone wie sie Eichen gewöhnlich zieren. Angeblich soll sie achthundert Jahre alt sein, also älter als die Stadt Berlin.

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Hier muss ich etwas erklären: Barbara hatte diesen Ausflug ausgesucht, damit ich nicht so viel laufen muss. Denn ich habe Herzprobleme und manchmal auch Luftnot, verursacht durch die Nebenwirkungen eines Medikamentes. Mit einem Wort, mir langte der Spaziergang! Und Google Earth zeigte uns, dass der Weg bis zum Schloss in etwa so weit wäre wie die Strecke, die wir zurückgelegt hatten. Denn es führte kein direkter Weg von der alten Eiche zum Schloss. Ich sagte zu Barbara: »Scheiß was auf das Schloss! Wir gehen zurück zur Sechserbrücke.« Hin und wieder pausierten wir auf einer Bank wegen meiner Zipperleins, blickten aufs Wasser und sprachen über die Restaurants, die wir gesehen hatten. Schließlich war es Zeit für ’s Mittagessen.

Wir stiegen eine imitierte Schiffswendeltreppe zu den ›Seeterrassen‹ hoch und wählten einen Tisch im Schatten einer Markise, die fast die gesamte große Terrasse überdeckte, und blickten auf den See. Trotz der Essenszeit wurden keine Gäste vertrieben, die nur etwas Trinken oder ein Eis essen wollten, was in manchen Ausflugslokalen die Regel ist, das Personal ist hier ungewöhnlich freundlich. Ich wählte Berliner Leber, sie stand auf der Speisekarte unter »regionale Spezialitäten«, die hatte ich lange nicht gegessen. Barbara bestellte eine Buttermakrele auf Pfifferlingsragout von der saisonalen Karte. »Der beste Fisch seit langem!«, sagte sie. Damit war das Geburtstagsessen gerettet.

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Von Mai 1990 bis Juni 2018 erschien unser Work in Progress. Es begann mit der ersten Folge ›Glückspilze und endete mit der letzten Folgen ›Der Glücksgott‹. Es entstanden 68 Folgen nebst sechs Treuegaben in 7 Buchbinderkassetten, 3.760 Seiten.

Die Texte von ›Schröder erzählt‹ wurden mit denen der Brüder Goncourt, Benvenuto Cellinis ›Vita‹, Giacomo Casanovas Memoiren, Jules Vallès’ ›Jacques Vingtras‹ und Samuel Pepys’ Tagebüchern verglichen. Es gab in den letzten 26 Jahren zahlreiche Presseveröffentlichungen, insgesamt 826 Rezensionen.

In der Zeitschrift ›Merkur‹, Heft Dezember 2011, erschien Gerhard Henschels Essay »Näher an die Wahrheit ran. Das kulturhistorische Mammutwerk ›Schröder erzählt‹. Wir zitieren daraus: »In der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur stehen die Lieferungen des Werks ›Schröder erzählt‹ einsam da. Es gibt zahllose Autobiographien, Tagebücher und Briefbände von Veteranen des Kulturbetriebs, doch es ist nichts darunter, was Schröders Erzählungen gleichkäme, sei es an Umfang, Unverschämtheit, Welthaltigkeit, Angriffslust, Eigensinn oder Witz, und auch die Herstellungsweise und der Vertrieb der Erzählungen sind einzigartig: Sie entstehen in Gesprächen zwischen Jörg Schröder und seiner Lebensgefährtin Barbara Kalender, gelangen von der ersten Abschrift in mehreren gemeinsamen Lektoratsgängen zur endgültigen Textgestalt, erscheinen mehrmals jährlich im Desktop-Publishing- Verfahren und werden einer gegenwärtig dreistelligen Zahl von Abonnenten zugestellt.«

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(BK / JS)

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https://blogs.taz.de/schroederkalender/2020/07/04/ausflug-zum-tegeler-see-3/

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