vonSchröder & Kalender 24.07.2020

Schröder & Kalender

Seit 2006 bloggen Schröder und Kalender nach dem Motto: Eine Ansicht, die nicht befremdet, ist falsch.

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Der Bär flattert in nördlicher Richtung.
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Im Juli 2020 nahmen wir Abschied von Jörg Schröder in der Feierhalle des Krematoriums Berlin-Baumschulenweg. Thomas Fuchs gab uns die Erlaubnis, seine Rede hier zu veröffentlichen, dafür danke ich ihm.

 

Thomas Fuchs. Foto: Matthias Reichelt

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Liebe Barbara, liebe Familienmitglieder, liebe Trauergäste,

meine Begegnung mit Jörg Schröder möchte ich gerne in zwei Richtungen schildern. Da ist zum einen die, man kann schon sagen mythische Figur, und die Person von Jörg. Es erinnert ein wenig, wenn mir der Ausflug in meine Profession erlaubt sei, an ein berühmtes Buch von Ernst Kantorowicz, die zwei Körper des Königs. Könige hatten im Mittelalter demnach zwei Körper, einen privaten, sterblichen und einen öffentlichen, unsterblichen. Vielleicht war Jörg Schröder auch ein König, ein König in einem Königreich des Geistes. Es scheint mir dabei angemessen, aus einem Buch zu zitieren, um zum Ausdruck zu bringen, was den öffentlichen Jörg Schröder bedeutend gemacht hat. Über diese Publikation (1), aus der ich zitiere, hat Jörg gesagt, dass sie wie wenige andere seine Intentionen mit dem März Verlag zum Ausdruck gebracht habe:

„Menschen neigen dazu, Vergangenes zu verklären. Sie entrümpeln Erinnerungen zu wehmütigen Gedächtnissplittern. Zu diesen wehmütigen Gedächtnissplittern von Menschen einer bestimmten soziopolitischen Grundhaltung gehören knallgelbe Bücher mit einer brutalistischen roten Schrift. Selbst bis in das katholisch oder pietistisch geprägte Südwestdeutschland drangen diese gelben Bücher vor, und sie haben dabei mitgeholfen, den Samen des Protests und der Modernisierung der Jahre um 1970 bis in das letzte Dorf zu tragen. Als ich in den siebziger Jahren zur Schule ging, war das Provokativste, was man sich im Deutschunterricht vorstellen konnte, „Unterm Rad“ von Hermann Hesse. Zu Hause dagegen lagen die gelben Bücher mit Titeln wie „Acid“, Bernward Vespers „Reise“, Günther Amendts „Sexfront“ oder Robert Crumbs „Head Comix“. Diese Titel waren schon etwas anderes als Hesses „Unterm Rad“. Sie waren subversiv. Diese subversiven Bücher, die selbst bis in die bundesdeutsche Provinz vordrangen, erschienen in dem von Jörg Schröder gegründeten und geleiteten März Verlag.“

Es ist natürlich eine große Aufgabe, Protest und Modernisierung in die letzten Winkel der bundesdeutschen Provinz zu tragen. Und so habe ich von Jörg Schröder erfahren, bevor ich ihn persönlich kennen lernen durfte. Das persönliche Kennenlernen geschah, weil wir Unterlagen von Barbara und Jörg für die Universitätsbibliothek Leipzig übernehmen. Bei einem dieser Termine war ein Theologiestudent dabei, um beim Tragen zu helfen. Während der Fahrt nach Berlin haben wir uns unterhalten, und ich habe ihn auf den Besuch einzustimmen versucht mit dem Hinweis, dass wir nun zwei Personen der Zeitgeschichte begegnen. Er wiederum berichtete, dass er aus einem Pfarrhaushalt im Erzgebirge stamme, dort gab es vor 1990 nicht mal Westfernsehen, und es dort mit der Kirche noch nicht ganz so schlimm stehe, weil die Menschen dort noch fromm seien, zumindest die, die in die Kirche gehen. Meine erster, für mich behalteter Gedanke war, das kann ja lustig werden. Mit einer entsprechenden Vorfreude begann der Besuch bei Barbara und Jörg.

Es war ein unglaublich netter Nachmittag bei einem sehr guten Essen und einem oder zwei Gläser Rotwein. Und in Vergegenwärtigung unseres Treffens an diesem Tag wurde mir deutlich, wie weitherzig Jörg war, wie ihm Engstirnigkeit fehlte und er sich auch an der erzgebirgischen Frömmigkeit erfreuen konnte. Und um nochmals auf eine historische Persönlichkeit zu Sprechen zu kommen. Er wirkte wie Friedrich der Große, schon von der Statur, ganz nach dem Motto, dass in seinem Königreich jeder nach seiner Façon glücklich werden dürfe. Jörg war an dem berühmten Esstisch ein König in einem Königreich des Geistes, auch wenn es, wie in diesem Moment vielleicht nur zwei Quadratmeter groß war. Und er konnte die Menschen beeindrucken im besten Sinne, so dass selbst mein frommer Theologiestudent es sich nicht nehmen ließ, zu einer Veranstaltung mit Barbara und Jörg an der Universitätsbibliothek Leipzig vorbeizukommen, auch wenn das Essen und Trinken in unserer Bibliothek nicht ganz so gut war.
Liebe Barbara, ich wünsche Dir viel Kraft, in Gedanken und Worten sind wir bei Dir. Jörg wird uns als Geisteskönig, aber auch als Freund unvergessen bleiben.

Thomas Fuchs am 10. Juli 2020

(1) In den »Marginalien« (Heft Nr. 237) erschien der Beitrag von Thomas Fuchs: ›März. Eine bundesdeutsche Geschichte‹.

Die »Marginalien – Zeitschrift für Buchkunst und Bibliophilie« werden von der Pirckheimer-Gesellschaft im quartus-Verlag herausgegeben und geben den Lesern einen Einblick in die unterschiedlichsten Bereiche der Buchkunst und Bibliophilie aus Geschichte und Gegenwart.

Thomas Fuchs ist außerplanmäßiger Professor am Historischen Seminar der Universität Leipzig und Leiter des Bereiches Sondersammlungen und Digitalisierung der Universitätsbibliothek Leipzig. Hier befindet sich nun das Archiv der MÄRZ Gesellschaft e.V. Berlin. Thomas Fuchs hat etliche Ausstellungen kuratiert – zuletzt mit Martin Hochrein: ›Politische Literatur. 50 Jahre März Verlag – und zahlreiche Publikationen veröffentlicht.

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TF / BK

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