vonSchröder & Kalender 03.11.2020

Schröder & Kalender

Seit 2006 bloggen Schröder und Kalender nach dem Motto: Eine Ansicht, die nicht befremdet, ist falsch.

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Der Bär flattert  in östlicher Richtung.
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Was die Chymie in Wald und Flur angeht, kennen wir uns einigermaßen aus, sammelten häufig Hallimasche, Maronen, Steinpilze, Morcheln und Lorcheln. Im Vogelsberg drehten Barbara, der Hund und ich oft eine kleine Runde ums Hörstchen, und eines Tages fanden wir dort ein großes Nest Pfifferlinge. Die bringen ja immer etwas Goldrauschartiges mit sich, sind aber leider in den Vogelsbergwäldern selten anzutreffen. Angestochen durch die Pfifferlinge sagte ich: »Jetzt fahren wir mal zur Siebertsmühle!« Die Gegend kannten wir gut, hier gab es die besten Pilzstellen, hinten im Forst lag die Atomrampe Europa, von der aus sich die Friedensbewegung in Gang setzte. Also wir hin, den Range Rover auf dem Gieseler-Forst-Parkplatz abgestellt, da fanden wir: Maronen, ein paar Pfifferlinge und plötzlich zwei Kolonien wunderschöner, kleiner, knubbeliger Steinpilze.

Mit vollem Korb fuhren wir nach Hause, bald waren die Pilze geputzt, der Speck brutzelte in der Pfanne, ein betörender Duft breitete sich in der Küche aus, da sagte ich: »Mensch, zu diesem Essen köpfen wir jetzt aber den ollen Portwein.« Wir tranken das erste Glas, dann waren die Pilze fertig, jeder bekam einen großen Haufen auf den Teller. Ich saß noch nicht ganz, da fuhr meine Mutter schon mit der Gabel in die schleimig-speckige Portion und meinte: »Ist aber ein bisschen bitter.« Ich rief: »Nein! Das kann nicht sein, sind alles gute Pilze.« Barbara probierte: »Tatsächlich! Bitter!« Jedoch, unsere Pilzlust, der Appetit und der Portwein hatten sich zu einem solchen Heißhunger verdichtet, dass wir weiter aßen. Es war nicht viel bitterer als ein Chicorée, bei dem man den Strunk nicht entfernt hat. Normalerweise lässt man aber doch den Teller stehen, wenn ein Pilzgericht komisch schmeckt.

Wir hielten erst ein, als schon ein Drittel vertilgt war. »Moment«, sagte ich, »giftig können sie nicht sein. Es gibt nur einen giftigen Röhrenpilz, den Satanspilz!« Aber meine Mutter posaunte, sie hätte gerade in der Frankfurter Rundschau von einer Familie gelesen, die nun pilztot sei, Knollenblätterpilze in Bayern, die übliche Geschichte. Ich wiederholte: »Unmöglich! Es waren keine Blätterpilze dabei, nur Maronen, Steinpilze und Pfifferlinge. Wieso ist es dann bitter? Ach, scheiß was drauf, es schmeckt doch eigentlich wunderbar!«

Wir lachten Tränen über die Möglichkeit, dass dies vielleicht unsere letzte Mahlzeit sei, wir ein Schierlingsgericht essen, und konnten doch nicht aufhören. Noch heute frage ich mich: Wie war das möglich? Na gut, Portwein. Als die Teller leer waren, hastete ich lachend nach oben, holte die Pilz-Enzyklopädie, die mit den Stichen.

 

Foto vom Gallenröhling, (c) Wikipedia

Natürlich fand ich den Pilz und las: »Gallenröhrling, auch Bitterschwamm genannt, kann als junger Pilz leicht mit dem Steinpilz verwechselt werden. Später zeigt er eine deutliche Rosa-Färbung der Röhren. Wegen seines bitteren Geschmacks ist der Pilz ungenießbar, aber nicht giftig.« Wir gingen zu Bett, noch immer Tränen lachend, und erwachten am nächsten Morgen, so wie man nach dem Rauchen von Gras aufwacht, erfrischt und ohne Dröhnung, wunderbar.

Nach diesem sonderbaren Essen wussten wir, dass wir wegen der Gallenröhrlinge aufpassen müssen. Aber immer wieder fällt man darauf rein, wenn fünf oder sechs Knubbel rauslugen, dann denkt man: »Das sind Steinpilze!« Also nimmt man das Messer, ritzt einen durch, leckt ihn an, bitter, schmeißt ihn weg. Und deshalb immer: lecken, lecken, lecken. Ich kann nur jedem raten, der depressiv ist, geh in den Wald, zwanzigmal an einem Gallenröhrling geleckt, und schon ist jede Bitterkeit verflogen.

Allerdings mache ich hier wieder den typischen Fehler der Boheme, diese lukrative Information, diese Glücksdroge, nicht selbst auszuwerten, sondern für ein kleines Zeilenhonorar unter die Leute zu bringen. Jetzt werden die Forscher von Bayer, Weleda und Hoffmann-La Roche, die Pharmazeuten von Merck bis Ciba-Geigy im gestreckten Galopp in die Wälder hasten. Und du wirst bald keinen einzigen Gallenröhrling mehr finden, weil die Pharmaindustrie natürlich Tonnen davon braucht, um die glücklich machenden Ingredienzien zu extrahieren. Die werden dann synthetisch nachgebaut, und bald verdienen sie damit Milliarden.

Aber so ist es nun mal, Max Stirner erfindet »Bolle bim bim!« zusammen mit anderen Bohemiens in der Hippelschen Weinstube bei Kokain und Absinth. Und wer macht das geniale Geschäft mit den Milchwagen? Natürlich Herr Bolle. So läuft das auch mit den glücklich machenden Drogen im Kapitalismus, und nicht Bolle ist verrückt.

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Diese Geschichte erschien in ›Kriemhilds Lache‹ im Verbrecher Verlag.

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BK / JS

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