vonSchröder & Kalender 10.08.2021

Schröder & Kalender

Seit 2006 bloggen Schröder und Kalender nach dem Motto: Eine Ansicht, die nicht befremdet, ist falsch.

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Der Bär flattert in nördlicher Richtung.
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In diesem Sommer gab es extremen Dauerregen und Hochwasser. Allein in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen starben mehr als 160 Menschen, Tausende sind obdachlos. Hunderte Gebäude sind weggerissen. Auch Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen kämpften mit Wassermassen. »Die Hochwasser in Bayern haben in den vergangenen Wochen und Monaten einen Schaden von rund 300 Millionen Euro angerichtet«, hörte ich im Bayerischen Rundfunk. Diese Meldung erinnert mich an ein Unwetter, wie wir es nur am Lechrain erlebt haben.

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Du darfst dir ein Gewitter dort nicht so vorstellen, als ob die Engel kegeln. Es hatte in der Villa zwei Stromzähler rausgehauen, wir fanden sie nach dem Einschlag inmitten von Glassplittern verschmort auf dem Fußboden im Flur. Während ich oben im Büro arbeitete, war der Anrufbeantworter neben mir explodiert. Barbara erwischte es beim Kochen, ein blauer Blitz knallte aus der Backröhre, und im Zimmer meiner Mutter fuhr er aus der Steckdose. Und überall stank es nach Schwefel, denn bei der Entladung von Elektrizität verbrennt Sauerstoff und setzt Schwefeldioxyd Schwefeldioxid frei. Wir trafen uns im Flur, jeder schrie: »Eben ist bei mir der Blitz …!« Mal abgesehen vom Schreck passierte uns aber nichts, allerdings waren sechs elektrische Geräte durch die Überspannung hinüber. Und nicht nur bei uns! In der Dorfmitte hatte es Waschmaschinen, Kühlschränke, Fernseher erwischt, die Computer der Gemeinde, der Kreissparkasse und unser Mac waren kaputt.

 


Blitzeinschlag. Foto: U.S. Air Force photo by Edward Aspera Jr.

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Die beiden zerstörten Zähler ersetzte das Elektrizitätswerk, trotzdem brannte das Licht im oberen Stockwerk nicht mehr. Der rotgesichtige Elektriker Riegele versuchte zunächst, mit Messgeräten diesen Defekt in der Leitung zu finden – sie zeigten nichts an. Schließlich meinte er: »Ja mei, da muass i halt amol horchen, wo’s brutzelt.« Und dann fuhr er mit seinem roten Ohr immer an der Wand lang, und auf der Hälfte der Treppe sagte er mit funkelnden Augen: »Da brutzelt’s!« Er griff zum Stemmeisen, klopfte die Wand auf, ich warnte ihn: »Sie haben den Strom nicht ausgeschaltet! Wenn Sie jetzt mit dem Eisen auf das Kabel treffen …« »Ach«, meinte er, »edzert muass i am Lebenden arbeita, sonscht seh i nit, wo’s brutzelt.« Er klopfte und klopfte, bis die Leitung freigelegt war. Und tatsächlich funkte es wie bei einer Wunderkerze – witschju, witschju!

Diesen Schaden hatte ich selbst angerichtet. Als wir nach dem Einzug im Treppenhaus Bilder aufhängten, hatte ich mit einem Nagel das Stromkabel leicht tangiert. Zwar war die Sicherung hochgesprungen, aber nachdem ich ihren Schalter gekippt hatte, brannte das Licht wieder, und ich kümmerte mich nicht weiter darum. Doch jetzt war der Blitz durch die Leitung geschossen und das Kabel an der defekten Stelle durchgeschmort. Der rotköpfige Riegele lachte über mein Malheur mit dem Nagel, fummelte die Drähte mit einer Lüsterklemme zusammen und setzte eine Dose.

Anschließend gab es den üblichen Kaffee, und dann haben diese Allgäuer ja ein Sitzfleisch – zwei Stunden hockte er am Tisch, erzählte aus seinem Leben. Selbstverständlich hatte er auch die Gelegenheit ergriffen und als Katastrophenelektriker an vorderster Front gekämpft, mit den Truppen des Technischen Hilfswerks war er im Kaukasus, der Türkei und anderen Erdbebengebieten gewesen. Da passte er hin, dieser Meister des Provisoriums! Ich bin überzeugt, dass er dort ein begehrter Mann war, der alles überbrückte, was nur überbrückt werden konnte.

Elektrizität war für den ja das, was für uns Papier ist. Er lachte nur, weil wir noch nie solch einen Blitzschlag erlebt hatten. »Mir ist vorher noch nie die Idee gekommen, dass der Blitz unsere ganze Familie hätte ausrotten können«, sagte ich. Und sofort setzte er eins drauf: Seine Großmutter ging wegen ihrer Arthrose an Krücken, konnte sich also kaum noch bewegen, kochte aber trotzdem für die Familie. Eines Tages stand sie mittags am Kohlenherd und rührte in den Töpfen, während ein heftiges Gewitter tobte. Der kleine Sepp saß derweil am Küchentisch und machte Hausaufgaben. »Un do«, so erzählte Riegele, »hoat’s an Wusch gemm!« Der Blitz fuhr durch den Schornstein in den Ofen, die eisernen Topfringe flogen durch die Küche, eine Ruß-Asche-Wolke wirbelte auf, und es stank nach Schwefel. Da schmiss die Oma ihre Krücken weg, rannte wie ein junges Mädchen aus dem Haus und schrie: »Dea Deifi! Dea Deifi!«

»Das ist alles halb so schlimm«, erklärte der Elektriker, »wichtig ist nur zu wissen, wie man sich fortbewegt, wenn man im Freien vom Gewitter überrascht wird.« Und um zu demonstrieren, wie wir uns verhalten sollten, hüpfte dieser Typ im blauen Elektrikerkittel mit dem Blitz auf der Brusttasche in unserem Wohnzimmer herum und erklärte in einem dem Ernst der Angelegenheit angemessenen, fast perfekten Hoch-deutsch: »Bei Gewitter darf man nit gehen, muass immer fest die Beine z’sammpressa und die Arme so vor die Brust kreuzen, sich a bisserl ducken und dann hüpfen, hüpfen, hüpfen!« Und er verlangte von uns, dass wir diese Übung augenblicklich nachmachten.

»Ein gutes Rezept für Autoren«, sagte ich als Riegele gegangen war, »man muss ›den Leser so elastisch stimmen, dass er sich auf die Fußspitzen stellt‹. So lautet Nietzsches Ratschlag für Schriftsteller.« »Meinetwegen Nietzsche«, meinte Barbara, »aber vergiss nicht Meister Riegeles Gewitterregel, vor allem müssen wir dafür sorgen, dass die Leser hüpfen, und zwar vor Vergnügen!«

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Diese Geschichte erschien in ›Schröder erzählt: Languages spoken‹ im März Desktop Verlag. Jörg Schröder und Barbara Kalender erzählten, die Transkription der Tonaufnahmen wurde von beiden Autoren redigiert.

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BK / JS

 

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