Ich habe mir vorgenommen, diesen Blog zu nutzen, um Menschen eine Plattform zu geben, die wichtige Arbeit leisten und die ich bewundere. Heute: der dritte Teil des mehrteiligen Interviews mit Yulia Arnautova. Sie ist seit 2022 Sprecherin einer der wichtigsten Frauenschutz-Organisationen in Russland – nasiliu.net (Moskau). Und hier geht es zum Teil II.
Im heute veröffentlichten Teil III des Interviews geht es etwas mehr um den sozialen und kulturellen Kontext und das Präventionsangebot für Männer.
D: Im ersten Teil sprachen wir vor allem über die politische Lage, im zweiten vor allem über die Rechtslage der Betroffenen. Sprechen wir jetzt über das vermeintlich Private: erhalten die Betroffenen Unterstützung von ihren männlichen Freunden oder den gemeinsamen Freunden?
Yulia: Ja, das gibt es durchaus. Das Problem ist hier nur: ist die Gewalt offensichtlich, dann wird ein Mann mit einem gesunden Wertesystem ja nicht die Freundschaft aufrechterhalten. Ist die Gewalt latent bzw. versteckt, dann werden die Freunde häufig ja erst gar nicht involviert, aus den gleichen Gründen wie zum Beispiel die Mütter. Aber ja, liegen die Tatsachen erst auf dem Tisch, dann erfahren viele Betroffene sehr viel Unterstützung: von den Schwestern, Brüdern, Eltern, Freundinnen. Natürlich!
D: Welches Verhalten seitens des Umfelds ist empfehlenswert?
Yulia: Sowohl die Beratungsstellen, als auch Freunde und Familie sollten keinen Druck ausüben. Es dauert, so lange wie es dauert; bloß keine Abwertung.
D: Könntest Du mir exemplarisch von einer Erfolgsgeschichte berichten?
Yulia: Wir hatten eine junge Frau aus Tschetschenien, die vor ihrer Familie geflohen ist. Einige Zeit später nahm sie eine Freundin von ihr mit, sie hat sie wirklich an die Hand genommen und zu uns geführt.
Ja! Tatsächlich. Überhaupt, im Ernst, wir haben viele Erfolgsgeschichten.
D: Wie ist die Situation in Tschetschenien?
Yulia: Es ist ein Wunder, dass es dort NGOs und Krisenzentren überhaupt gibt, zum Beispiel “Frauen für Progress”. Da gibt es Fälle, dass Männer in bewaffnete Gruppen kommen, um die Frauen zurück in die Familie zu entführen. Es kommt zu ‘Bestrafungen’ und Ehrenmorden. Einige der NGOs nennen ihre Adresse deshalb nicht geheim. Es gibt eine Organisation, die Fluchthilfe leistet. Die Religion verstärkt die Problematik, und obwohl in Tschetschenien theoretisch das Recht des Russischen Föderation gelten müsste, ist es absolut normal, dass eine Frau nur im Beisein eines Mannes aus der Familie zum Beispiel ihren Reisepass ausgehändigt bekommt, der doch tatsächlich auch den Empfangsschein unterschreiben muss. Jetzt hat sich die Lage aber auch für die jungen Männer verschlechtert, sie bekommen zur Zeit wegen der Mobilisierung ebenfalls keine Pässe ausgestellt. In Dagestan wiederum gibt es immer noch weibliche Genitalverstümmelung. Und es sind leider sehr oft gerade Mütter und Tanten, die das befürworten, mit der Begründung, so wird’s ein gutes Mädchen, getrimmt aufs Zuhause, das man dann guten Gewissens verheiraten könne.
D: Ihr organisiert Beratungen und Schulungen für Männer, die selbst Täter geworden sind, ist das richtig?
Yulia: Nun, zunächst einmal geht es ja nicht nur um Männer: Es sind ja Beratungen für “Autoren der Gewalt”, und sie sind auch für Frauen offen. Aber klar, statistisch sind Männer hier häufiger zugange. Ja, das tun wir, und wir glauben, dass das ein super wichtiges Arbeitsfeld ist: Erstens, es ist im Sinne der Betroffenen. Und zweitens, sehr oft fangen Männer dann an, das Wissen aus unseren Angeboten auch weiter zu verbreiten. Wir besprechen viele ethische Momente und die Männer fangen an, das auch in ihrem Umfeld zu sehen und zu benennen. Wie bei allem, – wie auch bei einer Abhängigkeit – ist Eigenmotivation extrem wichtig und die Arbeit an sich selbst ist der schwierigste Teil.
D: Funktioniert das für die Männer?
Es sind ja mehrteilige Kurse. Auf jeden Fall ist die Nachfrage gestiegen, und fast alle schließen den Kurs auch ab. Die Männer kommen also gern und gut. Wir schränken diesen Teil dieser Arbeit ein, das bedeutet, wir haben dafür einen festen Tag pro Woche – einfach weil unsere Spenderinnen von uns vor allem erwarten, dass wir Betroffenen helfen. Und trotzdem bekommen wir von den Menschen das Feedback, dass sie auch nach den Kursen weiter Fortschritte machen. Wir sind also sehr zufrieden.
D: Was sind die Hürden?
Yulia: Wir haben in Russland immer noch ein Männerbild, das Männer daran hindert, psychologische Hilfe abzufragen. Entsprechend ist einer unserer Psychologinnen aufgefallen, dass gerade die Männer am ehesten bei uns landen, die keine besonders schwere Gewalt ausüben: Schubsen, leichte Übergriffigkeiten, emotionale Gewalt. Täter, die wirklich brutal schlagen, kommen nicht.
Im Allgemeinen geht ein Mann auch mit einem Speer im Rücken erst dann zum Arzt, wenn er wegen des Speers quasi nicht schlafen kann. Das verbreitete Bild ist, die Sprache der Psychologie sei närrisch und unverständlich. Dementsprechend gehen eher die schon eher gebildeten Menschen, denen aufgefallen ist, dass sie ein Problem haben, dass sie ihre Emotionen nicht adäquat ausdrücken, und dass es eine gute Idee wäre, mit ihren Gefühlen ökologischer zu haushalten. Und oft sind es durchaus die Partnerinnen oder Ehefrauen, die darauf drängen oder auch ein Ultimatum stellen: Beratung oder Trennung.
D: Welche negativen Verhaltensmuster werden hier aufgearbeitet?
Yulia: Also sehen wir mal von der physischen Gewalt ab – weil das ja ein klarer Fall ist: Schläge, Schubser oder schmerzhafte Zwicker. Aber natürlich beginnt die Gewalt fast immer schon früher, aber viele Frauen realisieren erst da, wo sie “gelandet” sind. Ein erster Warnsignal ist Kontrolle, zum Beispiel der Wunsch, ständig zu wissen, wo sie ist und mit wem sie sich trifft, die über Fürsorge hinausgeht. Sehr häufig kappt der Aggressor allmählich Deine Verbindungen nach außen: früher war sie kommunikativ und hatte ganz viele Freunde. Dann sind Deine ganzen Kumpel Vollidioten und alle Deine Freundinnen “Schlampen” und alles hat dann ganz schlechten Einfluss auf Dich. Im Ergebnis hat die junge Frau oft nicht mal irgendjemand mehr zum Reden. Der nächste Aspekt ist das Geld: zuerst ist da die Übernahme der finanziellen Verantwortung: wozu eine eigene Karriere, wozu eigenes Geld, Du kannst Dich doch zuerst den Kindern widmen… Eine standardmäßige Geschichte. Das ist eine Falle, allmählich bist Du komplett abhängig und hast im schlimmsten Fall keine einzige eigene Kopejka. So viele Frauen haben keine Absicherung, kein Sicherheitsnetz: sie haben einfach keinen Ort, an den sie gehen können, wenn die Gewalt beginnt. Und dann sexualisierte Gewalt, wenn Du nicht gehört wirst, wenn Dir sexuelle Praktiken oder ein bestimmter Kleidungsstil aufgezwungen wird: eben alle möglichen roten Flaggen. Nicht immer gehen diese Formen von Gewalt in physische Gewalt über, aber auch sie können schon enormen Schaden anrichten. Sie untergraben die Autonomie und das Selbstwertgefühl der Betroffenen und erschweren die Loslösung.
D: Und das Ziel der Beratungen für Männer ist dann zu verstehen, wieso es Gewalt ist, Beziehungen mithilfe von Druck aufrechtzuerhalten?
Yulia: Ich bin selbst keine Psychologin, aber ich denke, es geht im Wesentlichen darum, gewaltfrei kommunizieren zu lernen und den eigenen Ärger oder Frustration in Worte zu fassen, die die Partnerin nicht abwerten. Und es geht auch um die grundsätzliche Fähigkeit, zwischen der Außenwelt und den eigenen Gefühlen und Reaktionen zu trennen.
D: Wie reagieren die Familien in Situationen, wenn ihre Töchter von häuslicher Gewalt betroffen sind?
Yulia: Ich glaube, Victim Blaming ist ein universelles Problem, und es nimmt zuweilen echt absurde Formen an. In Tatarstan gab es kürzlich einen Fall: ein Mann hat seiner Frau – und sie ist eine sehr junge, zierliche Frau, Bloggerin – mit einem Messer den Hals aufgeschlitzt. Die gemeinsame kleine Tochter hat alles miterlebt. Die junge Frau hat wie durch ein Wunder trotz des extremen Blutverlustes überlebt. Und ihre Mutter hat doch tatsächlich dem Mann den Anwalt bezahlt.
D: Mit welcher Begründung?
Yulia: Die Begründung war, dass ihre Tochter als Ehefrau komplett versagt haben muss. Aber das ist tatsächlich ein einzigartiger Fall. Manchmal hat man als Betroffene einfach extrem Pech, und die Familie reagiert mit einem: “Spiel Dich nicht auf”, “Dich braucht kein Mensch”, “Ist doch ein super Kerl” oder argumentieren, dass – wenn sie ihn anzeigt – die gemeinsamen Kinder ja einen Kriminellen zum Vater hätten… Faktisch bedeutet das in solchen Familien häufig, der Vater kommt später für den Mord in den Knast und die Mama unter die Erde… Aber leider wird die Gefahr so lange heruntergespielt, bis es zu spät ist. Und dann ist da natürlich die Idee, man solle “den Dreck nicht aus der Hütte tragen”.
D: Aber unterstützen die Mütter in der Regel ihre Töchter, wenn sie von Gewalt betroffen sind?
Yulia: Ja, das kommt durchaus vor. Aber auch diese Mütter erfahren es oft nicht rechtzeitig. Bei den ersten Konflikten schützen die Betroffenen die Reputation des Mannes gerade vor ihrer Mutter, weil ja klar ist, dass die eigene Mutter diesen Mann ansonsten nicht ausstehen können wird.
D: Wie steht’s also um Victim Blaming?
Yulia: Ich denke, das variiert stark regional und abhängig von Bildung und anderen sozialen Faktoren, und ich kann das nicht überregional beurteilen. In meiner Blase gibt es kaum Victim Blaming. Aber natürlich haben wir immer noch sehr patriarchalische Einstellungen. Die Verantwortung für alles, was in einer Beziehung passiert, wird auf die Frauen abgewälzt. Denn ein Mann ist eine Art Jäger, – das ist alles, was er muss, und Du musst ihm Gemütlichkeit und einen Herd bieten. Die Rolle des Mannes wird komplett ausgeklammert. Wenn etwas nicht klappt, dann hast Du als Herdhüterin versagt, die Mission komplett verfehlt. Entsprechend ist die Hemmschwelle hoch, familiäre Probleme anzusprechen. Sehr häufig versuchen Betroffene, die Fassade aufrechtzuerhalten, Schmincke drauf, Instagram, Ausflüge mit den Kindern, “mein Vasja ist einfach der Beste”. Auf so viele Betroffene redet man ein: “Was für einen tollen Mann Du da hast!” und “Denk an die Kinder”, “Sei Weise” usw. Dann gibt es so viele Sprichwörter, die zum Ausdruck bringen, wie eine Frau ihren Mann angeblich subtil steuern können sollte: „Er ist der Kopf, sie ist der Hals”, “Wie das Wasser so der Strom”, “Wenn sich Geliebte streiten ist das nichts als Spaß”. Und bei sexualisierter Gewalt kommt natürlich sehr häufig die Frage, was sie anhatte.
Diese dunkel-patriarchalen Denkmuster erhalten die Illusion einer gerechten Welt aufrecht, und dass man geschützt wäre, solange man sich richtig verhält, die Hoffnung, dass das eigene Leben in Ordnung sein wird, dass man es in der Hand hat. Dabei wissen wir eigentlich mittlerweile, dass die Motivation im Täter selbst liegt: es ist sein Wunsch nach Dominanz und keine passive Reaktion auf die Umwelt.
D: In welchen gesellschaftlichen Gruppen ist das in Deiner Erfahrung stark verbreitet?
Yulia: Generell ist die Armut natürlich ein extremer Faktor. Mit der Armut kommt die Frustration, kommt die ökonomische Abhängigkeit, sind Substanzabhängigkeiten stärker verbreitet und die Hemmschwellen sinken. Alkohol und Armut sind zwar nie der eigentliche Grund, sie machen nicht an sich gewalttätig, wenn es keine Tendenzen zur Gewalt oder das entsprechende Mindset gibt. Aber diese Probleme sind dennoch einfach ein verstärkender Faktor und liefern natürlich Vorwände, sie produzieren Druck und Konfliktpotential. Allgemein eine schwache soziale Stellung, und auch Depressionen können männliche Gewalt begünstigen – zusammen mit anderen Faktoren. Aber natürlich funktioniert der Umkehrschluss nicht: auch in Familien, die nach außen gebildet und mit engen Bezügen zur Hochkultur, – oder sehr wohlhabend – und nach außen wunderbar harmonisch wirken, kommt Gewalt vor, gerade gegen die Kinder. Außerdem werden die meisten Gewalttaten von Menschen ohne diagnostizierte psychiatrische Erkrankungen begangen.
D: Welche Faktoren fallen Dir noch ein?
Yulia: Ultrakonservative Religion ist zwar Fall ein Faktor, aber das scheint nicht so stark verbreitet. Andererseits gibt es eine großartige christliche Menschenrechtsorganisation in Moskau, die auch Betroffenen der häuslichen Gewalt hilft, und das ohne jegliches Victim blaming: Kitezh.
Fortsetzung folgt. Im nächsten Teil des Interviews sprechen wir über den Krieg und schließen mit einer Bilanz ab, die positiv ausfällt, – weil es sonst einfach nicht weiter gehen würde.
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