vonDaria Schweigolz 11.04.2024

Seele gegen Wand

Let's call it praktische qualitative Anthopologie

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Ich habe mir vorgenommen, diesen Blog zu nutzen, um Menschen eine Plattform zu geben, die wichtige Arbeit leisten und die ich bewundere. Heute: der vierte und letzte Teil des mehrteiligen Interviews mit Yulia Arnautova. Sie ist seit 2022 Sprecherin einer der wichtigsten Frauenschutz-Organisationen in Russland –  nasiliu.net (Moskau). Und hier geht es zum Teil III.

Im heutigen und letzten Teil des Interviews geht es um den Krieg; dann ziehen wir noch kurz eine gemeinsame Bilanz.

D: Wir haben im letzten Teil über unterschiedliche soziale Faktoren gesprochen, mit denen ihr im Team in Berührung kommt. Welche Rolle spielt der Krieg? Als Faktor, der die Gewalt begünstigt, aber auch für Dich persönlich?

Yulia: Also im Moment wird viel darüber spekuliert, dass alle Soldaten mit PTBS und anderen Erkrankungen zurückkehren werden und alle gewalttätig werden. Sicherlich wird das nicht so sein, aber natürlich ist der Krieg ein Faktor. Nur 9% aller Menschen, die traumatische Erlebnisse hinter sich haben, entwickeln laut Studien überhaupt PTBS, und nicht immer gehört zum Bild von PTBS Aggression. Aber ja, natürlich werden einige Männer nach dem Krieg mit dem Gefühl leben, dass sie überall in Gefahr und von “Angreifern” umgeben seien. Zusätzlich verlangt dieser Krieg, dass die Soldaten das individuelle menschliche Leben als wertlos einstufen, und das prägt gewiß. Wir rechnen auf jeden Fall mit einer Zunahme von spontanen Gewaltkonflikten im öffentlichen Raum, es kommen garantiert mehr Waffen in Umlauf, weil das echt niemand kontrolliert. Und ist die Veranlagung da, dann denke ich schon, dass Kampferfahrung und Traumata als Auslöser fungieren oder das Gewaltpotential dramatisch erhöhen können. Aber letztlich ist allein das Mindset entscheidend. Und andererseits ist es ja auch denkbar, dass der Krieg das Wertesystem mancher Menschen völlig umkrempeln wird (nicht zum Guten).

D: Kannst Du das Wertesystem irgendwie charakterisieren?

Yulia: Die grundlegende Haltung, einen anderen Menschen oder auch ein anderes Wesen neben mir nicht zu achten. Aber es fängt früher an – wenn das Verständnis fehlt, dass Menschen ihre eigenen persönlichen Grenzen haben. In diesem Weltbild weiß ich besser, was für die Anderen das Beste ist und was sie zu tun haben, und entsprechend kann ich das ‘Nein’ eines anderen Menschen nicht akzeptieren. “Domostroy” hat die Idee, dass man seine Tochter oder seine Frau mit Schlägen belehren dürfe, und formen, wie sie die Suppe zu servieren hat und was sie zu tragen hat… Dasselbe ist die Vorstellung, dass man das eigene Kind formen dürfe. In vielen Familien gibt es die Vorstellung, dass man die Mädchen nicht mit dem Gürtel erziehen darf, die Jungen aber schon.

D: Also schützt ein liberales Mindset vor Gewalt?

Yulia: Naja, natürlich ist es kein Rundumschutz, aber Toleranz geht halt damit einher, dass der Wunsch, die Angelegenheiten anderer Leute mit Fäusten zu klären, abnimmt. Und entsprechend haben Feministinnen auch als erste ganz klar den Krieg verurteilt.

D: Gab es hier in Russland in den letzten Jahren eine positive Entwicklung?

Yulia: Russland hat generell ein extrem hohes Niveau an Gewalt, aber ja, es gab eine positive Entwicklung. Ich glaube, im Kontext einer weltweiten Tendenz: Es werden so viele Filme gedreht, es wird so viel gesprochen, Feministinnen treten immer wieder in die Öffentlichkeit, es gibt immer mehr Ressourcen online. Immer mehr Männer – auch – beispielsweise in Moskau, vervielfältigen feministische Kritik und das feministische Wertesystem. 2015, als “Nein zur Gewalt” ihre Arbeit aufgenommen hat, war das in der russischen Öffentlichkeit kein sehr verbreitetes Thema, es gab kaum eine Anlaufstelle für Betroffene online. Jetzt, im Gegensatz, ist es ein sehr prominentes Thema, Suchanfragen auf russisch ergeben extrem viele Treffer, und Victim Blaming ist nicht mehr so verbreitet wie noch vor einigen wenigen Jahren. Deshalb hatte ich persönlich bis 2022 schon das Gefühl einer sehr positiven Entwicklung.

D: Was hat Februar 2022 verändert?

Yulia: Wir waren am Boden zerstört, wir konnten es kaum glauben, es war wirklich wirklich schwer, die Tatsachen anzunehmen. Wir waren in den letzten Jahren so stolz auf unsere Arbeit, viele von uns hatten das Gefühl, dass wir uns als Gesellschaft enorm verbessert hätten, dass es wirklich aufwärts geht. Jetzt ist es schwierig, Prognosen zu treffen. Betreffend der Verbreitung von Gewalt in der Gesellschaft rechnen wir jetzt mit einer Verschlimmerung. Zuverlässige polizeiliche Statistiken gibt es im Moment nicht.

D: Und zwar?

Yulia: […] Ein Teil der Männer geht an die Front, um zu morden, während der andere migriert. Wir glauben, dass daraus wahrscheinlich eine gewisse Konkurrenz um die Männer entsteht, wie schon nach den letzten Kriegen [zum Beispiel nach dem Zweiten Weltkrieg]. Das wird ein Rückschritt sein, weil viele Frauen dann bereit sein könnten, Gewalt länger klaglos zu ertragen. Wir sehen den Effekt noch nicht, weil kaum einer von der Front überhaupt zurückkehrt.

D: Was wären Deine Wünsche für die Zukunft?

Yulia: Wenn ich träumen dürfte? En russlandweites Hilfsnetz von Einrichtungen mit vernünftigen Niveau, – also so, dass man duschen kann ohne auf Ungeziefer zu treten. Ausgebildete Polizeikräfte und ausgebildetes medizinisches Personal. Gewaltprävention im Lehrplan an Schulen. Man braucht hierfür nicht wenig Geld, klar, aber vor allem den politischen Willen. Und das sehe ich nicht.

D: Bevor wir zum Schluss kommen, erzähl mir bitte von einem Erfolgserlebnis, das Du mit Deinem Team gemeinsam hattest?

Yulia: Anfang Februar letzten Jahres, also vor etwa einem Jahr, wurde Anya persönlich auf die Liste der ausländischen Agenten gesetzt. Das an sich war jetzt keine große Überraschung, weil sie einfach immer sehr geradeaus spricht und sich konsequent gegen jede Form von Gewalt ausgesprochen hat. Jedenfalls haben wir damit gerechnet, dass wir komplett aufgelöst werden, – doch dann haben wir gemeinsam entschieden, dass wir weiterkämpfen und wir haben unser Angebot zum 01. Juni 2023 auf ganz Russland erweitert. Wir haben die Mitarbeiterinnen aufgestockt und eine neue Plattform für Remote Beratungen entwickelt. Und alles hat geklappt! Das ist sehr cool!


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