Wer für eine sozialere Gesellschaft argumentiert, und sich nicht scheut, mit Menschen gegensätzlicher Meinung zu diskutieren hat folgendes so oder so ähnlich sicher schon einmal gehört: „Das liegt halt im Wesen des Menschen, der Mensch ist eben nicht auf soziale Gleichheit bedacht, sondern allen voran auf sich selbst.“ Doch ist diese Ansicht gerechtfertigt? Wie sinnvoll ist es, mit einem vermeintlichen Wesen der oder des Menschen zu argumentieren?
Kurz vorweg: Ich bin kein Psychologe, und das soll auch keine allzu psychologische Betrachtung sein. Vielmehr möchte ich auf die eigentliche Argumentationsweise und entsprechende Zusammenhänge eingehen.
Zu Anfang ist es sicher sinnvoll zu klären, wer derartige Argumentationsmuster eigentlich nutzt – und wofür: Ich kann hier nur aus eigener Erfahrung sprechen. Der zu Folge ist es immer und immer wieder ähnlich. Irgendjemand argumentiert für soziale Gleichheit oder eine allgemeinwohlorientierte Gesellschaft – und dann wird abgestritten. Der Mensch sei einfach nicht dazu fähig, Gleichheit anzuerkennen (wobei viele, die so diskutieren, das selbst nicht wollen).
In dieser Hinsicht wird also sehr, sehr starke Gleichmacherei gegen Gleichheit eingesetzt und ist oft das einzige Stück einer so kurzen Argumentationskette, dass es treffender wäre, -kette zu streichen.
Wer soziale Gleichheit selbst nicht akzeptieren möchte, geht stumpf davon aus, dass das ja niemand tun könnte. Noch merkwürdiger wird es dann, wenn historische Ereignisse, vor allem die unzähligen Kriege der Vergangenheit mit einbezogen werden:
Das Argument vom Wesen des Menschen stützt sich zu einem bedenklichen Maß auf Ausblendungen:
Wer so argumentiert, blendet aus, dass – soweit ich das beurteilen kann – kein Mensch mit einer voll ausgeprägten Ideologie zur Welt kommt. Kein Neugeborenes randaliert im Kreißsaal, weil es „des Menschen Wolf“ sein möchte oder muss. Die Entwicklung eines Kindes und weiter gedacht, das Bewusstsein eines Menschen ist doch nicht naturgegeben (zumindest nicht vollständig). Die Erziehung, etwa im Elternhaus, der Umgang mit anderen in Kita, Schule und später der gesamten Gesellschaft hat meiner Ansicht nach doch wesentlich mehr, wenn nicht den (einzig) ausschlaggebenden Einfluss.
Wer mit einem angeblichen menschlichen Wesen argumentiert, blendet aus, dass Menschen sich wandeln, vor allem so lang sie es wollen. Menschen können sich verändern und verändern sich auch – ob sie aktiv dafür handeln oder nicht. Niemand ist als erwachsene Person die selbe, wie als Kind. Menschen bleiben sich selbst doch nur 100%ig treu, wenn sie nie in Kontakt mit anderen kommen – und das ist, zumindest heutzutage de facto unmöglich.
Warum ist es aber gerade so merkwürdig, wenn versucht wird, das Wesen des Menschen historisch zu begründen? Geschichte ist als solche doch in erster Linie die vergangene Entwicklung der Gesellschaft, die heute aus aktueller Perspektive analysiert und wenn es um historische Einordnung geht auch reflektiert wird. Wird nun, beispielsweise anhand eines Krieges versucht zu erklären, warum der Mensch immer gegen den Menschen arbeite und das in seinem Wesen liege, wird doch ausgeblendet, dass wir heutzutage aus der Geschichte lernen können und sollten.
Selbst wenn es menschliche Grundeigenschaften, etwa einen Überlebensdrang gibt, nehmen diese wohl kaum die Ausmaße einer Ideologie an. Und selbst wenn dieser Überlebensdrang beispielsweise über allem anderen stehen sollte, nur einmal angenommen, dann würde er immer noch kein Verhalten rechtfertigen, gegen andere Menschen im ständigen Konkurrenzkampf zu stehen. Menschen waren doch, und genau das zeigt die historische Entwicklung eigentlich, immer dann erfolgreich, wenn sie zusammenarbeiteten. Ob in kleinen Gruppen oder etwas größeren Solidargemeinschaften: Von der Steinzeit bis heute können und konnten Menschen nur gemeinsam überleben und waren stets im Nachteil, wenn sie gegeneinander agierten.
Sollte das einmal nicht der Fall (gewesen) sein, so liegt das immer noch nicht zwingend an einer menschlichen Natur. Nehmen wir als Beispiel die heutige Zeit, die geprägt ist von spaltenden Konkurrenzkämpfen insbesondere im Zuge des (Monopol-)kapitalistischen Wirtschaftssystems des 21. Jahrhunderts: Arbeiter*innen stehen gegen die kapitalistischen Eigentümer großer Unternehmen und Konzerne – wobei erstere noch gegeneinander ausgespielt werden, weil sie sich gegeneinander auf dem „Arbeitsmarkt“ durchzusetzen haben. Ist das die Schuld der Menschen, die in dieses wohl eher unmenschliche System hineingeboren werden? Nein. Denn der Mensch ist nur so lang des Menschen Wolf, wie er des Menschen Wolf sein muss! Das, und die Wichtigkeit sozialer Gleichheit gilt es heute endlich zu akzeptieren.
Endlich gilt es gemeinsam zu erkennen, dass es nur gemeinsam weitergehen kann: Die Klimakatastrophe, die von Menschen verursacht wurde und wird, lässt sich nur gemeinsam aufhalten. Die Schere zwischen Arm und Reich schnellt im Kapitalismus immer weiter auseinander und lässt sich nur durch ein anderes, sozialeres und gemeinwohlorientiertes Wirtschaftssystem schließen. Und auch die Coronapandemie kann nur durch menschliche Solidarität überwunden werden.
Die Vorstellung, dass Menschen immer gegen Menschen sein müssten, lässt sich nicht wirklich begründen. Sie ist ein rückständiges Vorstellungsgebilde, das es meiner Ansicht nach zu überdenken gilt. Selbst wenn es grundlegende menschliche Eigenschaften gibt, rechtfertigen diese nicht, ein gemeinsames Zusammenleben auszublenden.
Dieser Text von Fabian Schaar ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International Lizenz.