Die Debatte wird scheinbar nicht alt: Wie neutral sollten, wie subjektiv dürfen Medien sein?
Solang einige „besorgte Bürger“ jetzt laut „LÜGENPRESSE“ quiecken, sollten andere, halbwegs logisch Denkende sich vielleicht die Frage stellen, ob diese Diskussion eigentlich geführt werden sollte.
Während bei Printmedien zumeist einigermaßen bekannt ist, wie sie sich in der Vergangenheit politisch positioniert haben (insbesondere in Kommentaren und Kolumnen), gelten Nachrichtensendungen wie die Tagesschau oder ZDF heute allgemein als relativ neutral.
Doch genau hier liegt das eigentliche Problem: Was bedeutet neutral zu sein, objektiv zu berichten – ist das überhaupt möglich?
Klar ist: eine radikale Subjektivität, wie sie von Zeitungskommentaren oder Weblogs erwartet wird, kann relativ leicht unterbunden werden, wenn die entsprechenden Medienschaffenden darauf wert legen, was bei weitem nicht immer der Fall ist, aber auch keinesfalls immer nötig oder gar richtig ist.
Geht es beispielsweise um den menschengemachten Klimawandel, die übergroße, wenn nicht größte Herausforderung unserer Zeit, muss schonungslos gezeigt werden, was ist, wie die Entwicklungen für die Zukunft prognostiziert werden und vor allem auch der*m letzten klar gemacht werden: Hier muss gehandelt werden, auf jeder Ebene und nicht zuletzt von Grund auf.
Doch beiseite mit diesen Beispielen. Ich behaupte: Trotz aller Bemühungen wird eine rein objektive Berichterstattung niemals möglich sein! Denn obwohl persönliche Ansichten von Journalist*innen, sicherlich manchmal mühsam, unterdrückt werden können:
Auch eine solche Neutralität ist keineswegs neutral.
Die letzten Jahre zeigten stets eine Entwicklung hin zu einer immer und immer schnelleren Welt:
Lange politische Essays auf Blogs werden kaum noch gelesen, der sogenannte „Mikroblogging“-Dienst Twitter boomt (obwohl die Plattform mit ihrer extremen Zeichenbegrenzung der wohl ungeeignetste Ort für ausführliche Diskussionen ist).
TikTok und Instagram feiern mit kurzen Videos bzw. Stories und leichtem Bildmaterial große Erfolge. Beide Plattformen gehören zu den beliebtesten unter den (a)sozialen Medien.
Auch Print und TV haben seit jeher nur begrenzte Sendezeiten oder Zeilen für ihre Beiträge und kürzen Online-Auftritte zumeist auf das „Wesentliche“ zusammen (wie das zu bewerten ist, ist ein Thema für einen anderen Text).
Dieses „Wesentliche“ ist der entscheidende Punkt. Dieses „Wesentliche“ variiert nicht nur von Redaktion zu Redaktion sondern auch von Autor zu Autor:
Diskriminierte blicken anders auch die Welt als Privilegierte, Arbeiter*innen anders als Kapitalist*innen, Frauen und andere Geschlechter anders als Männer, People of Colour anders als weiße Mitteleuropäer*innen. Auch die Redakteur*innen oder Autor*innen der Medienlandschaft werden unterschiedlich sozialisiert, nicht zuletzt unterschiedlich wegen ihrer sozialen Herkunft in der Klassengesellschaft des 21. Jahrhunderts.
Und je nachdem, aus welchem Blickwinkel Redaktionen ihre Seiten oder Sendezeiten füllen, sind sie zwangsläufig subjektiv.
Angesichts dieser Tatsache fällt es wesentlich schwerer auf neutrale, objektive Medien zu bestehen, nicht wahr?
Anstatt blind diesen Begrifflichkeiten, diesen leeren Worthülsen der Profilierung hinterherzulaufen, sollten wir uns möglicherweise auf eine gänzlich andere Idee stützen, so zumindest meine gewollt äußerst subjektive Meinung:
Wenn eine wirkliche Objektivität aus den oben genannten Gründen nicht möglich ist, braucht es die Vereinung aller Blickwinkel, den Zusammenschluss möglichst vieler Subjektivitäten, um die Realität tatsächlich abzubilden.
Anstatt die eigene Meinung aus einem privilegierten Standpunkt heraus als objektiv zu inszenieren, sollte stattdessen auf eine erweiterte Diversität in den Medien hingearbeitet werden, die auch jetzt Benachteiligte Menschen zu Wort kommen lässt, die unrechtmäßigen Privilegien der heutigen Gesellschaft sichtbar macht und endlich die Gleichberechtigung der Menschen betont.
Wer nun denkt, dass genau dieses Denken der AfD und anderen rechten Populisten und Extremisten in die Karten spielt, hat auf den ersten Blick sicher einen Punkt, sollte sich aber auch vor Augen führen, für wen die beispielweise die AfD, hauptsächlich bestehend aus einem rechtsextrem-faschistischen Flügel und einem (extrem) neoliberalen Flügel (das betont so z.B. der AfD-Kenner und Soziologe Andreas Kemper), unterm Strich eintritt:
In erster Linie sind das ohnehin privilegierte weiße Männer, die zu den Profiteuren des kapitalistischen Wirtschaftssystems dieser Welt gehören (Hartz-IV-Empfänger, die der Staat mit Sanktionen bereits jetzt zu Arbeit zwingen will – d.h. noch mehr als das die Strukturen des Kapitalismus mit allen anderen Menschen auch tun, die für Lohn arbeiten, arbeiten sollen oder später müssen – werden beispielsweise vom AfD-Abgeordneten Rainer Rahn als „parasitär und unsozial“ degradiert (an dieser Stelle: unsozial sind nicht die Hartz-IV Empfänger*innen, sondern vielmehr das System Hartz-IV und die AfD)).
Anstatt den rechtsextremen Hetzern also noch mehr eine Plattform zu bieten (wie dies v.a. seit Aufkommen der AfD immer wieder der Fall war), sollten Medien diverser, offener, demokratischer werden, sich von einer scheinbaren Neutralität verabschieden, stattdessen für alle wichtige Themen betonen, alle zu Wort kommen lassen und mehr Unabhängigkeit beispielsweise gegenüber großen Firmen und deren Werbung betonen und ausbauen.
~ meine Meinung.
Anmerkung:
Auch die Neo-Magazin-Royale-Redaktion rund um Jan Böhmermann griff in der Rubrik „die Telelupe“ zum Thema Wikipedia eine ähnliche Problematik auf: Die fehlende Diversität unter den Autor*innen des Online-Lexikons.
Meiner Ansicht nach sollte die Neutralitätsdebatte jedoch nicht nur in Bezug auf Wikipedia diskutiert werden, sondern auch bezogen auf die gesamte Medienbranche. In den Kommentaren unter dem entsprechenden, übrigens sehr sehenswerten Video regten sich auch Stimmen, die mehr oder minder auf „die Neutralität“ von Wikipedia bestanden. Vermutlich kann die oben stehende Argumentation, bezogen auf die gesamte Medienbranche auch auf Wikipedia übertragen werden.
Dieser Text von Fabian Schaar ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International Lizenz.