Es gibt die Dinge, über die rede ich als Radiomacherin nicht gerne. Dennoch tue ich es. Seit Jahren. Ich rede über das, was hinter den Kulissen passiert. Darüber, wie wir ganz praktisch Radio machen, manchmal mit Methoden, die ich fragwürdig finde. Denn in meinem inzwischen über zwanzigjährigen Berufsleben als Hörfunkerin habe ich in ganz unterschiedlichen Sendern, Seminaren und Redaktionen immer wieder Dinge erlebt, die ich für bedenklich halte. (Sandra Müller)
Sandra Müllers Blog steht numnehr auf tönenden Füßen – „Mehrspur“, das Medienmagazin vom SWR2, macht’s auf seine EigenArt möglich. Erst verpasst Redakteur Wolfram Wessels (s. Foto links, mit Walter Filz) den AutorInnen eine Radiokolumne auf seiner Website, dann wird das Geschriebene im Studio magazingerecht vertont. Diesmal serviert „Mehrspur“ via Sandra Müller (Initiative „Fair Radio“) mentale Fall-Outs direkt aus den Audio-Sendezentralen:
Eine Korrespondentin beschreibt reportagig, was sich bei einem lang erwarteten Großereignis abspielt – mit Details, genauen Schilderungen, Szenen. Die Aufnahmezeit zeigt aber: Die Beschreibung wurde gemacht, als das Ereignis noch gar nicht begonnen hatte.
– Ein Moderator zerschneidet das höchst emotionale, persönliche Interview eines Kollegen. Darin hatte eine Frau ihre tragische Familiengeschichte erzählt. Der Moderator holt sich nur die Antworten. Auf Sender spielt er das Interview nach, als hätte er selbst mit der Frau gesprochen.
– Der Höhepunkt einer Höreraktion – der 100.000ste Anrufer – soll unbedingt morgens in der Primetime auf Sendung. Also werden Antworten des „100.000sten“ Anrufers schon am Vorabend aufgezeichnet. Die spielt der Moderator morgens als Gespräch nach. Vorher hat er aber noch den spannenden Aufruf platziert: „So, die 100.000 ist in Sichtweite. Rufen Sie an. Die machen wir jetzt voll.“
Ein alter oder junger Narr also, der glaubt, nur das Fernsehen geriete zur Komischen Oper. Sandra Müller liebt das Radio viel zu sehr, um es nicht zu kritisieren:
Alles Fälle, die ich selbst erlebt habe. Und mehr als die berühmten „Einzelfälle“. Denn vor inzwischen sieben Jahren hat sich bei einer Diskussionsrunde bei den Tutzinger Radiotagen gezeigt: Viele Radiomacher, egal ob öffentlich-rechtlich oder privat, kennen solche Situationen. Aus der Diskussionsrunde von damals wurde die Initiative „fair radio“, ein loser Zusammenschluss von RadiomacherInnen und -hörerInnen. Gemeinsam werben wir für mehr Glaubwürdigkeit im Radio und wünschen uns unter anderem weniger Inszenierungsfakes.
Apropos fair. Es war seinerzeit (2008) ganz und gar nicht fair vom RBB, seine Welle „Radio Multikulti“ plattzumachen. Und es war ein Akt extrem kreativer Rebellion der MacherInnen, sich nicht kleinmachen zu lassen, sondern via „Radio multicult.fm“ autonome Beiträge in die große weite Welt zu schicken. Fair genug also von Wessels und seiner Kollegin Christine Werner in „Mehrspur“ die Chefredakteurin des freien „Weltkulturradios“, Brigitta Gabrin, in der Kreuzberger Marheineke-Markthalle zu Wort kommen zu lassen.
Dieses Alleinstellungsmerkmal, dass wir das einzige Radio europaweit in einer Markthalle sind, das ist uns jetzt nicht zugeflogen, das haben wir uns ausgesucht. Es war irgendwann mal klar, dass wir keine öffentlichen Fördergelder bekommen und dann habe ich mir gedacht, ok, du wirst nie soviel Geld haben um 10 Reporter in die Welt rauszuschicken, dass die Inhalte aus der Welt hierher kommen, also verändern wir was, wir drehen es um und stellen uns auf, an einem öffentlichen Platz, wo uns der Content direkt geliefert wird.
Wer durch die Kreuzberger Bergmannstraße flaniert, allemal die Stöpsel vom Smartfon im Ohr, um multicult zu hören, der kann sich zumindest im ersten Stock der Markthalle entstöpseln, dort alles gläsern, live und haftig erleben – ab sofort mit einer revolutionären Neuerung: Zum Live-Programm vor Ort werden sich, so der Plan der tapferen „Multiculten“ , demnächst der eine oder andere „Espresso“ oder auch eine „Mèlange“ gesellen.
Hinter dem Tresen in unserem Radiocafé sollen Barfrau oder Barmann die Schnittstelle zwischen dem Außen und Innen unseres Radios sein. Das heißt, wir suchen hier jemanden, der Lust hat auf die Entstehung eines neuen Profils – den Gastroradiomacher!
Wie zu hören ist, überlegt Mehrspurchef Wolfram Wessels durchaus ernsthaft, sich um den den Job als Radio-Barkeeper zu bewerben. Nur Mut! …Bleibt noch, last but not least, von einer Rubrik in „Mehrspur“ zu berichten, die etwas präsentiert, was früher der „Informationsdienst für unterdrückte Nachrichten (ID)“ so bravourös erledigte – Christiane Rey offeriert „Nachrichten aus dem Off“, ….all das, was unter den News-Desk fiel und keiner aufzuheben wagte:
Paris: Die Weltzoll-Organisation WZO warnt vor gefährlichen Medikamenten in Afrika. Viele seien gefälscht und könnten erheblichen Schaden anrichten. Kinder im Niger hätten beispielsweise einen Schmerz-Saft bekommen, in dem Glykol enthalten war, das normalerweise zum Kühlen von Motoren verwendet wird. In Viagrapillen sei Rattengift gefunden worden, die Pillen seien mit Druckertinte blau gefärbt gewesen. Impfstoffe bestünden aus Fluss-Wasser, andere Medikamente aus Zucker. Die Weltzoll-Organisation hat nach eigenen Angaben in den vergangenen drei Jahren 756 Millionen solcher Medikamente in 14 afrikanischen Ländern beschlagnahmt.
Mehr davon und anderes, auch relevante Reflexionen zur „Zukunft des Radios“, im aktuellen Podcast von „Mehrspur!“ Just click and listen!
Längst nicht „alles“ ist inszeniert, dafür aber manchmal verschlafen, dreht sich um sich selbst und stößt kein Fenster auf, verliert den Atem und läuft irgendwelchen dumpfen Trends hinterher. Tatsächlich wären Ethik und Transparenz für ein Radio mit Zukunft keine schlechten Optionen. Und bewegt sich doch. Ab und zu: http://www.fair-radio.net/www/tutzinger-appell/