vonDetlef Berentzen 22.07.2015

Dr. Feelgood

Detlef Berentzen, Ex-tazler, Autor für Funk und Print, verbreitete hier „News“ der anderen Art. Gute zum Beispiel. Machte die Welt hör-und lesbar.

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Verdi ist zwar unantastbar in seinem Ruhm, aber er ist mir nah in seinen Schwächen und in seiner Furcht, aus der Fantasie zu stürzen, das Handwerk nicht mehr zu können. Ich erzähle meine Erfahrungen als seine und seine als meine, und es ist mir nicht wichtig, mich an die Chronologie zu halten. Der Kalender verliert an Bedeutung, doch die Schritte sind es, die Schritte. Wer nicht mehr gehen kann, ist nicht unterwegs. Es sei denn, er lässt seine Gedanken fliegen. (Peter Härtling: „Verdi“)

Beim „Schubert“ und dessen Fremde waren es noch „12 Moments muiscaux und ein Roman“, in denen Peter Härtling den Franz suchte und immer wieder fand: „Ich sehe wie Schubert mit seinem Klavier hinaus auf eine Wiese fährt, die einer riesigen grünen Schüssel gleicht und mich überkommt die Angst, er könnte über den Rand stürzen….“ Doch es kam anders. Und jetzt, nach Schumann, Hoffmann, Fanny Hensel und überhaupt: Giuseppe Verdi! Sant‘ Agata, die Emilia, Va Pensiero! Die Gedanken fliegen lassen, mit oder ohne goldene Flügel, und doch: dem alten Verdi nachspüren, in „neun Fantasien“ – Härtlings neuestes Werk erscheint demnächst. Premiere und Lesereisen sind geplant. Die Karten gelegt.

Macht nix, Peter Härtling sitzt in Walldorf und schreibt schon wieder. Das Flüchtlingskind Peter, das Vater und Mutter an den Krieg verlor, beeinflußt nach wie vor den Atem seiner Erinnerung und es hat ihn (wie einst bei „Krücke“) längst wieder am Ärmel gezupft und geraunt: „Schreib! Schreib, daß nichts vorbei ist!“ Und da war auf einmal dieses andere Kind auf der Flucht, ein Kind aus Syrien, allein gestrandet in Deutschland. Und wollte erzählt werden. „Ich bin sicher, dass das Flüchtlingskind, das ich war, in seinen Ängsten, auch in seinem Zorn, in seiner Abwehr, in einigen Figuren meiner Bücher steckt. All das bleibt lebendig.“ Schreiben ist wie Atmen, sagt der fast 82jährige Peter Härtling und beatmet unsere Zeit, erzählt sein Jetzt und das der Anderen.

Als ich gestern in Oldenburg nahe dem Landesarchiv aufwachte, in einer weiß getünchten Hotelschachtel mit Flachbildschirm, war da wenigstens ein Radio. Und Härtling darin. Und der erzählte. Und ich lasse mir gern erzählen. Über seine Fantasien, seine musikalischen Momente und den Einbruch der Zeit und des Alters in unser aller Tage. Wie dichtete es noch Johann Wolfgang: „Das Leben ist kurz, der Tag ist lang.“ Einen dieser langen Tage könnte man nutzen, um dem Härtling-Podcast des Deutschlandradios nachzuhören. Und dabei von Verdi zu lernen, daß es so eine Sache mit der Wahrheit ist: Sie zu erfinden ist besser. Weit besser!

DLRpodcast

VerdiFlashBrescia

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