…born to be wild.
Keine Damenbesuche!
Und Herrenbesuche nur bis zehn Uhr abends!
Die Küche dürfen Sie morgens zwischen acht und zehn Uhr und abends zwischen sechs und acht Uhr benutzen!
Ihre Wäsche können Sie mir geben!
Endlich in Berlin. Hermann hat für’s Erste ein Zimmer zur Untermiete genommen. In Neukölln. In einem grau verputzten Altbau mit allerliebsten Putten über der Haustür. Bei einer etwas kleingeratenen, schlesischstämmigen Offizierswitwe mit strengem Haarknoten und geblümter Kittelschürze.
Alles hatte schnell gehen müssen – Anfrage beim Makler, dann sofort Mietvertrag. Da hatte er keine Zeit gehabt, sich eine Untervermieterin auszusuchen, die auch mal lachen konnte.
Sein alter Käfer stand unten auf der Straße.
Berlin.
Er war bereits in den Eichensarg, der angeblich ein Zimmer sein sollte, eingezogen – Buffet, Eichenschrank, Doppelbett, Schreibtisch, alles aus dunkler Eiche. Ein großes Fenster zur Straße, davor dicke weiße Gardinen.
Die lassen Sie bitte immer zugezogen!
Die Offizierswitwe machte ihm manchmal Angst. Doch nicht allzu viel. Sie machte ihn eher zornig. Sehr. Egal, auf alle Fälle mied er in den folgenden Monaten zunehmend den Kontakt mit ihr.
Immer Ruckzuck rein in die Wohnung und ab in den Sarg mit den Gardinen. Benutzte ab und zu nur schnell mal das Klo. Aber nie die Küche. Da hätte er ja die Alte getroffen.
Seine Lebensmittel vom Aldi-Markt um die Ecke deponierte er hinter der Gardine auf der Fensterbank – Brot, Margarine, Leberwurst im Glas, Schmalz, Salz. Das alles stellte er sorgsam neben die beiden Porzellanteller, das Besteck, den Tauchsieder und den dazugehörigem Aluminiumtopf.
In dem Topf kochte er sich sonntags ein Fünf-Minuten-Ei und unter der Woche schon mal eine Suppe. Aus der Tüte.
Während er aß, setzte er immer seinen kleinen Kassettenrekorder samt Simon & Garfunkel in Gang.
When you are weary, feeling small,
when tears are in your eyes,
I will dry them all!
Und wußte nicht, warum er traurig war. Warum bittere Tränen in die frisch gebrühte Frühlingssuppe tropften. Er war doch hier. In Berlin. In Spree-Babylon. Hatte es geschafft.
Your time has come to shine,
all your dreams are on their way!
Und war allein. Spürte Leere. Ziemlich schwarz war die. Dann wieder Kraft. Hell und licht und manchmal auch Wut.
Fette Wut. Wut und Haß. Mit und ohne Namen.
Wenn er in voller Montur auf dem Bett lag, an die bestuckte Decke starrte, dann packte ihn die Wut aus Easy Rider! Da hatten die miesen Rednecks den Dennis Hopper abgeknallt. Auf dem Highway.
Born to be wild!
Aber da war auch noch die viel größere Wut, die IF in ihm erlöst hatte.
Verdammt, IF!
Der Film aus England war ihm zum Fanal geworden. Den hatte er noch mit Bernd und Sylvia im einzigen Filmkunstkino seiner Gaskesselheimat gesehen. Die Bilder hakten sich fest in seinem Körper, weckten Erinnerungen. Böse. Immer wieder
dies Gestraft- und Gequält-Werden. Von sadistischen Lehrern, von einem brutal-autoritären System ohne Gnade. Du wehrst Dich, wirst kleingemacht, du wehrst dich, wirst wieder kleingemacht. Noch kleiner. Bist ein mieser kleiner Schüler, der jedem Sadismus schutzlos ausgeliefert ist. In irgendeinem beschissenen Internat, in dem sie dich eingeknastet haben und täglich quälen. Weil du nichts wert bist. Überhaupt nichts.
Und dann diese wahnsinng einfache Lösung im Film, an die er bisher nie zu denken wagte – Mit den nötigen Waffen auf dem Dach liegen und die Peiniger aus dem Weg räumen.
Was für eine irre Phantasie!
Hermann war vollkommen aufgewühlt aus dem Kino gekommen. Sylvia hatte schwer und sozialpädagogisch genickt.
In unseren Fürsorgeheimen ist es nicht anders!
Nur greift da keiner zur Waffe! Aber Bambule machen’se!
Heiß und fasziniert hatten sie damals in ihrer Sperrmüllkneipe jedes Bild, jede Szene von IF! Revue passieren lassen.
IF, ja, IF, ja wenn!
Dieses Wenn erzeugte Kraft, unbändige Kraft. Und es machte Angst, riesengroße Angst. Hermann lief jedesmal ein Schauer über den Rücken wenn dieses IF! in seinem möblierten Eichensarg als kalte Wut über ihn kam. Dachte hilfsweise an seine Freunde. Auch an seine neue Freundin. Machte sich warme Gedanken. Aber da war keine Gina. Niemand war da. Nur Neukölln, die Schlesier-Witwe mit der Kittelschürze und in Wilmersdorf die stark bebrillte Großtante, die jeden morgen ihr Glas Cognac trank. Hermann aber hatte nicht einmal Cognac, lag einsam in seinem Eichensarg. Also rieb er sich all das Heimweh und erst recht den Liebesdurst in kleinen Spritzern von der Seele.
(aus: Detlef Berentzen, „Berlin, Sie – Hermann die zwote“)