Endlich: ZweiZimmerInnenklo.
Hermanns erste eigene Wohnung. In Kreuzberg. In einem Altbau, dessen ruinierte Gründerzeit-Fassade bis in den ersten Stock hinauf mit Einschußlöchern gegerbt war. Einschußlöcher waren das Markenzeichen für viele Berliner Altbauten, Einschußlöcher, die nichts anderes bedeuteten als: Achtung!, hier wurde vor kurzem noch geschossen und all das Elend ist längst nicht vorbei und Geld für neuen Putz hat der arme Hausbesitzer eh nicht und die Russen können immer wieder kommen oder auch nicht, auf alle Fälle sind wir Frontstadt.
Hermann dachte oft daran, wen die Kugeln, deren Einschüße nicht in den Hauswänden zu sehen waren, wohl getroffen hatten. Der lag dann da, zuckte, schrie, verblutete und sah noch einmal seinen Himmel. Kurz nur. Und der Himmel war blau.Vielleicht.
Die Wohnung lag im ersten Stock. Wenn man sich weit aus dem Fenster lehnte und nach links schaute, konnte man die Spree sehen. Am anderen Ufer Mauer, Wachtturm, Postenwege, Hundegebell.
Ein Zimmer groß. Eines klein. Beide mit verwitteren Holzdielen und Kachelöfen. Eine Küche mit Feuerstelle, genannt „Kochmaschine“, dazu ein Ausguß, eine Kammer ohne Fenster, ein Klo ohne Fenster.
Miete Hundert Mark.
Gefunden in Springers Berliner Zeitung.
Die Hausverwaltung wollte nicht mal eine Bürgschaft: Die Hundert Mark monatlich werden’se doch wohl aufbringen können, junga Mann!?
Konnte er. Da war nur kein Geld für die Renovierung – Von wegen Tapeten, Farben, Lacke. Also kaufte er bei Aldi Aluminiumfolie. Klebte sie mit Kleister vom Heimwerkermarkt auf der Köpenicker kreuz und quer an die Wände, damit er die eklige alte Tapete mit dem großen Blumenmuster nicht mehr sehen mußte.
Möbel hatte er auch keine.
Die unsäglichen Eichenmöbel hatte Hermann tunlichst im Untermiet-Sarg der Witwe stehen lassen, sie nicht des Nachts heimlich ausgeräumt , kein Freudenfeuer daraus und die alte Schlesierin obendrauf heiß gemacht – Das war nur so eine herrlich funkelnde Idee gewesen, als er in der Telefonzelle vor dem Haus nach zig Wählversuchen (der Telefonverkehr mit dem westdeutschen Festland war immer schwierig) Gina an der Strippe hatte.
Komm’ doch gleich am nächsten Wochenende!
Endlich sturmfrei!
Holt die Gina also vom Bahnhof Zoo ab, liegt kurz darauf mit ihr auf den drei blaugemusterten Matratzen, die Rudi ihm spendiert hat und sieht vollkomen überreizt zu, wie ihre Hand mit den grünlackierten Fingernägeln den Gürtel seiner Hose öffnet.
Später serviert Hermann Nescafé. Aufgelöst in tauchgesiedetem Wasser.
Oh, Mann! Der Kaffee dampft, Holländer-Kekse dazu, jede Menge Glücksgefühle: Endlich frei! Und am nächsten Tag noch mehr Besuch.
Bernd und Sylvia.
Mit ihrem neu-gebrauchten, ziemlich hellgrünen Ford-Taunus, Modell Badewanne, waren sie gekommen, hatten Schlafsäcke dabei und eine Flasche Faber-Sekt.
Mensch, wurde Zeit, daß Du ne Bude für Dich hast! Wissen wir endlich, wo wir pennen können! Prost!
Später kam auch noch Rudi, brachte die üblichen Zigarren, kurz darauf der kleine Jimi. Setzte sich auf den Fußboden, grinste in die Alufolie an der Wand, drehte eine Tüte zur Begrüßung, dann noch eine, alle zogen gemeinsam den Stoff durch und lächelten entspannt.
Und später hatten sie alle Hunger. Nur waren da keine Töpfe, kein Herd, nichts eingekauft und nicht allzuviel Kohle.
Macht nix, gehen wir in den Alligator!
Für sechs, sieben Mark konnte man sich dort echt satt essen. Das hatte Hermann mit Rudi längst getestet.
Rudi kannte sich in der Kneipenszene aus – die „Kreuzberger Weltlaterne“ mit Klasse-Soleiern auf dem Tresen, die „Dicke Wirtin“ mit fleischigen Buletten, das „Natubs“ mit den fetten Schmalzstullen und eben der „Alligator“! – Eine echt scharfe Eckkneipe am Landwehrkanal, gleich neben der Kottbusser Brücke.
Ach, der Alligator!
Zwei alte Frauen kochten dort. Dick waren die, kugelig, in irgendwie weißen Kitteln, auf denen sämtliche Spuren der Genüße abgebildet waren, die sie auf der Speisekarte anboten – Roulade mit Rotkohl, Bratwurst mit Kraut, Hackbraten mit Soße. All das serviert von einem wunderbar schwitzenden, herrlich schwulen Kellner in viel zu enger weißer Jacke.
Harry, was gibt’s denn heute?
Harry war eine Attraktion. Hochsensibel und Kein Wort zuviel, bitte! Nie hatte er Zeit für einen kleinen Plausch, der Alligator war immer gerammelt voll.
Doch sie fanden einen Tisch, einen großen. Alle ran, Hackbraten bestellt, und schon waren die Teller leer. Und dann kommt Harry noch einmal.
Nachtisch? Pudding?
Und fängt an durchzuzählen. Deutet charmant mit seinem verdammt hübschen Zeigefinger auf jeden einzelnen.
Säuselt furchtbar süß.
Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs!
Mein Gott, so viele Puddings!
Wiegt sich sexy in den Hüften und schwenkt ab.
Harry war Gold wert.
(aus: Detlef Berentzen, “Berlin, Sie – Hermann, die zwote”)
Illustration: Joern Schlund
Wer kennt noch diesen längst versunkenen Erdteil? Düster, durchweht von gelblich-schwefeligen Abgasen einer per Tagebau aus der roten Teilerde geförderten Braunkohle: das Anti-Paradies eines freien Westberlin. Wir sind Kellerkinder einer versunkenen Welt. Und pissten an Sylvester aus dem Fenster unseres großen Zimmers auf die dunkle Schlesische Straße.
Rudi