vonDetlef Berentzen 22.05.2016

Dr. Feelgood

Detlef Berentzen, Ex-tazler, Autor für Funk und Print, verbreitete hier „News“ der anderen Art. Gute zum Beispiel. Machte die Welt hör-und lesbar.

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Die Masse zeigt, wenn wir sie als Ganzes ins Auge fassen, die Züge von Schwächung der intelektuellen Leistung, von Ungehemmtheit der Affektivität, die Unfähigkeit zur Mäßigung und zum Aufschub , die Neigung zur Überschreitung aller Schranken zur Gefühlsäußerung und zur vollen Abfuhr derselben in Handlung – dies ergibt ein unverkennbares Bild der seelischen Regression auf eine frühere Stufe. (Sigmund Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse)

 

 
Servus Michael,

ich erinnere mich an unsere letzten zunehmend erregten Debatten und nichts ist wahrer: Die Ereignisse der vergangenen Monate und Jahre in Deutschland, Österreich, Frankreich, Ungarn und überhaupt geben Anlass genug, endlich das zu realisieren, was der Literaturwissenschaftler Karl Heinz Bohrer als notwendig prophezeite: „Wir werden Canettis ‚Masse und Macht‘ , so glaube ich, alle zehn Jahre von neuem lesen müssen.“ Auch 2016 ist ein zehntes Jahr! Und tatsächlich kann Bohrers Postulat nicht nur für die Analyse der „Hetzmassen“ und „Fluchtmassen“ des Nobelpreisträgers Elias Canetti gelten.

Zu den auffallendsten Zügen im Leben der Masse gehört etwas, was man als ein Gefühl von Verfolgtheit bezeichnen könnte, eine besondere, zornige Empfindlichkeit und Reizbarkeit gegen ein für allemal als solche designierte Feinde. Diese können unternehmen, was immer sie wollen – alles wird ihnen so ausgelegt also ob es einer unerschütterlichen Böswilligkeit entspringe, einer schlechten Gesinnung gegen die Masse, einer vorgefassten Absicht, sie offen oder heimtückisch zu zerstören. (Elias Canetti: „Masse und Macht“)

Es braucht schon sämtliche Reflexionen der Geschichte über Masse und deren Psychologie, um zu begreifen, warum und wie sich die „zivilisatorische Normalität“ (Norbert Elias) auch jetzt wieder so zunehmend wie furchterregend verändert: Brennende Flüchtlingsheime und hasserfüllte Massen gehören zum Alltag. Populisten und Neofaschisten, die vor versammelten Massen das Ende von Demokratie und Gleichberechtigung fordern, bekommen ebenso Applaus wie Morddrohungen an engagierte Journalisten und Menschenrechtler im Internet. Alles ganz normal. Scheinbar. Auch die heutige Präsidentschaftskanditatur eines sogen. Hofer, der Flüchtlinge als „Invasoren“ Österreichs denunziert und angesichts solcher Invasion „das Überleben unseres Volkes“ garantieren will. Mit Hilfe von Hetze und Verfolgung. Ich könnte kotzen. Aber umarme dich.

Ganz freundlich
d.

 

NEIN hp1

Lieber Detlef,
ich werde dir morgen nach der Bekanntgabe des Wahlergebnisses eine kurze Analyse schicken.

Soviel vorweg: Ich gebe mich keinen Illusionen hin. Wir stehen vor ein paar recht grauslichen Jahren. Denn zum rechtsextrmen Bundespräsidenten Hofer wird sich alsbald ein ebenso gesinnter Bundeskanzler Strache gesellen. Hofer wird Neuwahlen provozieren müssen. Das erwarten seine Partei und die Anhänger der FPÖ von ihm. In allen Umfragen liegen die Freiheitlichen deutlich voran. Die österreichische Verfassung stattet den Bundespräsidenten mit weitreichenden Rechten aus, die bis dato nie (!) genutzt wurden. Die Amtsbeschreibung des Bundesprädidenten stammt noch aus den späten 1920er Jahren und ist von einer versteckten Neigung zu autoritären Strukturen geprägt. Also wird es wohl im Herbst eine neue österreichische Regierung mit deutlichem Rechtsdrall geben.
Gier, Niedertracht und die sehr österreichische Mischung aus wehleidiger Larmoyanz, Größenwahn im Schrebergarten und Minderwertigkeitsgefühl werden dann Kultur und Klima bestimmen. Zuerst wird der Größenwahn kommen. In Laa an der Thaya wurde er Maibaum am Freitagmorgen schon mit einer Hakenkreuzfahne versehen. Das berichten die Niederösterreichischen Nachrichten und bringen dazu auch das Beweisphoto.

Nach der ersten nationalen Euphorie wird die große Enttäuschung einkehren. Denn die Wirtschaftsdaten werden sich rapide verschlechtern. Das Kapital ist sehr flexibel und die strammen Burschen sind zwar maulflink aber haben keinen blassen Tau von der Ökonomie. Die freiheitlichen Wirtschaftshelden in Kärnten haben uns eine Bankpleite mit mindestens 12,5 Milliarden Euro Schulden hinterlassen, die nun die Allgemeinheit zu tragen haben wird

Der Hautgôut der rechten Recken, die allgemeine Unsicherheit und eine krude Mischung aus makroökonomischer Ahnungslosigkeit und neoliberalen Ideensplittern werden Österreich recht bald in eine wirtschaftlich etwas desaströse Situation bringen. Kapital wie produzierende Wirtschaft werden sich höchst zurückhaltend zeigen. Und wenn Strache, Hofer & Co wirklich en gros Nichtösterreicher des Landes verweisen, werden auch recht bald Hunderttausende weniger hier sein, die Waren und Dienstleistungen kaufen. Das wird Folgen haben.

Mehr dazu dann morgen nach der Wahl.
Alles Liebe

M.

 

Illustrationen: Joern Schlund

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