Education is the most powerful weapon which you can use to change the world.“
(Nelson Mandela, Ehrenpräsident United-World-College 1999-2014)
Julia Schetelig ist 17 Jahre alt. Lebt in Berlin. Eigentlich. Und sie schreibt. Ihr letztes Buch, das sie tapfer als „Kindle-Edition“ verbreitete“, trug den Titel „Engelsflügel“. Die Flügel haben sie inzwischen weit fortgetragen. Nach Singapur. Ich hatte sie in Berlin während einer Lesung für Nachwuchskräfte kennengelernt. Und als ich hörte, dass sie für zwei Jahre qua Stipendium an einem „United World College“ in Südostasien studieren wird, fand ich es keine schlechte Idee, sie notieren zu lassen, was so läuft – in Singapur, am College und überhaupt. (db)
Ein halbes Jahr nachdem ich angekommen bin.
Ein ganzes Jahr nachdem ich meine Zusage vom Nationalkomitee bekommen habe.
Es fühlt sich an wie eine Ewigkeit und trotzdem ist die Zeit schon viel zu schnell vergangen.
Es ist Februar und ich sitze in kurzen Hosen auf dem Balkon und soll meinen Halbjahresbericht schreiben. Aber wie fasse ich ein halbes Jahr zusammen?
Ich rede über Schule und meine Fächer (Psychologie und Film mache ich am liebsten) die Lehrer (sehr fordernd, aber unendlich unterstützend und inspirierend). Ich schreibe gerade von meinen Gastfamilien, meinen Ausflügen und Plänen für’s nächste halbe Jahr, als meine ungarische Klassenkameradin vorbeikommt und mich von der anderen Seite des Sofas umarmt : “What are you doing?”, fragt sie. “The impact report”, seufze ich, muss dann aber lächeln.
Welchen Einfluss hat UWC bis jetzt auf mich ausgeübt?
Ich weiß es nicht. Man selbst kriegt ja nicht so richtig mit, wenn und wie man sich verändert.
Ich bin sportlich geworden, das sagen mir zumindest die Freunde und meine Kleidergröße. Ich arbeite besser im Team, denke ich zumindest. Ich höre besser zu oder rede nicht mehr so viel wie früher, auf jeden Fall nicht immer. Ich bin glücklicher.
Ich bin auch introvertierter, ruhiger. Genieße meine Zeit alleine. Denke mehr nach, denke zu viel nach. Und manchmal gar nicht.
Meine Liebe zum Lernen habe ich wiedergefunden. Freie Zeit finde ich für das dringendste und nötigste: Freunde, Kuscheln, all das.
Welchen Einfluss das United World College auf mich ausübt…?
Ich öffne meine Bilddateien und scrolle durch mein neues Leben – Fotos vom Botanischen Garten, dem Strandpark, von der Reise nach Indonesien fliegen über den Bildschirm, samt Screenshots von Unterrichtsmaterial und Vokabeln. Ich finde ein Video von der jährlichen Tanzshow, von nächtlichen Balkon-Parties oder Snapchat-stories.
Ich lande auf Facebook und antworte einer Freundin aus Kambodscha, dass ich das Plakat für die Friedenskonferenz heute abend fertig habe. Mein Email-Fach benachrichtigt mich, dass mein Englischlehrer meine neue AG betreuen will und ich schicke ihm schnell die Agenda für Montag. Ich bin gerade erfolgreich dabei, den Reminder für meine Film-Hausarbeit nächste Woche zu ignorieren, als mein Houseparent hochkommt und mich daran erinnert, meinen Flug nach Laos zu buchen, wo ich mit ein paar Freunden in einer NGO ehrenamtlich helfen will.
Schließlich fange ich an zu schreiben. Ich schreibe über die Herausforderung, 260 Leute in einer Stufe zu haben, Mathe auf Englisch machen zu müssen, 24/7 von Gleichaltrigen umgeben zu sein, sich selbst und das was man früher seine Talente genannt hat in Frage zu stellen. Momente, in denen man realisiert, dass die Hälfte der Aktivitäten nicht so ist, wie man erwartet hat und vor einem Aktivitätenplan mit Sachen steht, die man noch nie in seinem Leben gemacht hat. Wo man die “Challenge” in Frage stellt und eigentlich alles gerne mal…normal hätte. Es gibt Momente, wo plötzlich alles zu viel wird: Schule, Leben und ich daneben.
Aber ich erzähle auch von meinen Favoritmomenten: Ausflüge und Reisen, tiefgehende Gespräche über alles: von Sex bis hin zur Philosophie der Mathematik, unglaubliche Geschichten, die meine Freunde aus aller Welt mit mir teilen. Ich überlebe die Nacht dank Schokolade aus Kasachstan, verschlucke lachend ganz Indien, sehe plötzlich dank Bhutan das Leben komplett anders und schlafe nach einem 24h Writing Marathon in Indonesiens Armen ein.
Ich sehe die Welt anders. Die Landkarte in meinem Kopf besteht nicht mehr aus Ländern, sondern aus Gesichtern, Geschichte ist kein bloßer Text mehr, sondern Family und die aktuellen Nachrichten kann man zwar ausschalten, aber nicht mehr ignorieren.
Ich lebe in einer Schule, in der ich als Europäerin, erst recht als Deutsche die absolute Minderheit bin. Während ich mit Leuten aus Asien lerne, mit denen aus Nord- und Südamerika feiern gehe, und Hausaufgaben mit AfrikanerInnen mache, schließen sich unsere Heimatländer selbst mehr und mehr ein.
Mein Alltag besteht aus Sport, Lernen, Musik, Lernen, Reden und Schlafen. Ich rede mit meinen Freunden über Essen, Filme und Liebe. Wir debattieren nicht jeden Tag über Politik und haben nicht alle schon fast einen Friedensnobelpreis gewonnen. Aber wir sehen gemeinsam, dass wir alle am Ende vom Tag nur glücklich sein wollen.
Dieses College, das SchülerInnen aus aller Welt vereint, verändert mich in fast jedem Aspekt meiner Persönlichkeit. Ich habe das unendliche Glück in einer Umgebung erwachsen zu werden, die genauso neugierig, genauso frustriert und das Leben genau so liebt und in Frage stellt wie ich.
Ich schaue von hier aus in die Welt und frage mich wohin das führen soll.
Während ich fast schon die ersten Universitätsbewerbungen schreibe, versuche ich den Moment zu leben. Versuche herauszufinden, was mich glücklich macht und versuche gleichzeitig mit Themen wie Zukunft und Vorsorge umzugehen.
Und finde schließlich heraus, dass ich sowieso nichts weiß. Weder über Politik und Liebe noch vom Leben. Nichts über das United World College, auch nichts von dem ultimativen Ziel dahinter. Geschweige denn über mich selbst.
Auf jeden Fall bin ich nicht allein.