Das Kind kommt zu spät: „Die Uhr im Schulhof sieht beschädigt aus durch seine Schuld.“ Walter Benjamin notierte das. Der Philosoph erinnerte sich mit diesen und anderen Sätzen in einem kleinen Text der Sammlung „Einbahnstraße“ an seine „Berliner Kindheit um 1900“. Er läßt das späte Kind durch den Schulflur schleichen, die Tür des Klassenzimmers „unhörbar“ öffnen und es sodann, als „arme Seele“, mit „zehn, zwanzig schweren Säcken“ bepackt, zu seiner Schulbank schleichen.
Als ich Benjamins „Zu spät gekommenes Kind“ vor Jahrzehnten das erste Mal las, war ich erstaunt und bin es heute immer noch. Erstaunt darüber, wie sehr sich unsere Erfahrungen hie und da gleichen. Immerhin bin ich mehr als fünfzig Jahre n a c h dem kleinen Walter zu spät gekommen. Oft genug. In einem Nachkriegsdeutschland, das man bereits Bundesrepublik nannte. Ich war ein Kind, das nicht zur Schule wollte, weil es dort nichts zu erwarten hatte. Gar nichts. Also wurde dem lederbehosten Jungen der Weg Richtung Volksschule zur Qual. Jede bunte Blume, jeder schwanzwedelnde Hund, selbst der Duft, der aus der Bäckerei strömte und ihm als Verführung in die Nase drang, alles geriet zur Ablenkung, zu einem Moment, der nicht enden sollte.
„Musst Du nicht längst in der Schule sein?“, zeterte die alte Frau, die ihn jeden Morgen vorbeiziehen sah, hinter ihrem weiß gestrichenen Vorgartenzaun. Da senkte der Junge, der ich war, voller Scham den Kopf auf die Brust, machte, drei, vier schnelle Schritte, träumte sich weiter und stand dann irgendwann doch vor dem Schultor. Grau war das , mächtig streng und stand längst nicht mehr offen.
Er zog das Tor auf, nur einen Spalt weit, schlüpfte hindurch, noch ein paar steinerne Stufen hinauf und dann stand er auf dem Flur, wie einst der Schüler Benjamin, ging auf Zehenspitzen über das blankgebohnerte Linoleum, wollte nichts lieber als zurück ins Freie, an bunten Blumen riechen oder besser noch: einfach in irgendeinem Nichts verschwinden, sich in Luft auflösen. Doch irgendetwas, das ihm nicht gehörte, zwang ihn voran. Die Tür des Klassenzimmers schien ihm bedrohlich, doch da lag schon seine Hand auf der Klinke, er öffnete die Tür zum Strafgericht, schlug die Augen nieder, trat ein, sah die Gesichter der Mitschüler und hörte das düstere Grollen des Lehrers: „Komm sofort nach vorn!“
Der Junge mußte auf ein kleines Podest steigen und sollte erzählen, warum er zu spät gekommen war. Doch er schwieg. Es gab kein Wort, das ihn retten konnte. Also musste er wieder runter vom Podest , der Lehrer griff sich den Rohrstock, der Junge duckte sich unter den Schlägen, hockte sich weinend in die Bank und wollte von niemandem mehr gesehen werden. Deshalb machte es das Kind, das ich war, wie einst der kleine Benjamin: Es schaffte leise mit bis zum Glockenschlag. Randaliert wurde erst später.
Illustration: Joern Schlund („Der vergessene pädagogische Raum“)
Früher, in unserer Jugend gab es nicht nur Nazis, prügelnde Lehrer und schweigende Frauen. Es gab auch Omas, die haben Strümpfe für ihre Enkel gestrickt und ihnen von der knappen Rente Schokolade gekauft, die hatten immer ein offenes Haus voller Hoffnung, in dem gelacht und gestritten wurde. Es gab Männer, die habe für sich, ihre Brüder und Schwestern jedes Wochenende auf dem Bau geschuftet, damit die bald ein neues Zuhause hatten, und es gab Frauen, die haben sich gefreut, wenn sie noch einen extra Zuckerwürfel im Bohnenkaffee versenken konnten. Und es gab Versöhnung, über alle Gräber hinweg, die hat zumindest bis heute gehalten. Das pralle Leben eben.
In diesem Sinne Dir einen wunderschönen Tag.