Nach einer langen Periode lethargischen Schlafs und permanenter Konterrevolution zeichnet sich seit einigen Jahren eine neue Periode der Kritik ab, deren Träger die Jugend zu sein scheint. Die Revolte der Jugend gegen die ihr aufgezwungene Lebensweise ist in Wirklichkeit nur der Vorläufer einer umfassenden Subversion, bei der alle mitwirken werden, die zunehmend die Unmöglichkeit zu leben empfinden, das Vorspiel denächsten revolutionären Epoche. Die proletarischen Revolutionen werden Feste sein. Das Spiel ist die letzte Rationalität dieses Festes – Leben ohne tote Zeit und Genuß ohne Hemmungen sind die einzigen Regeln, die es anzuerkennen gilt. (Situationistische Internationale: „Über das Elend im Studentenmilieu“)
„Genossinnen, Genossen!“ – wer kann das heute noch hören, ohne dabei Staub zu schlucken, doch beim SDS klang das seinerzeit irgendwie nach Freiheit und Abenteuer, neuen Gesellschaftsprojekten, nach: wir sind auf dem langen Marsch und ihr könnt uns alle mal und Fußkranke können wir dabei nicht gebrauchen. Außerdem hat die Bezeichnung GenossIn etwas mit genießen zu tun, doch dafür hatte kaum jemand Zeit damals, man war unterwegs in eine gleißende Zukunft: Leuchte, mein Stern leuchte und leuchte rot und schwarz….keiner wollte rüber in den Osten, wie es die Eckensteher mit ihren Deutschen Schäferhunden forderten.
Auch Hermann hat nichts mit dem Osten im Sinn, aber der ist ohnehin nur ein einfacher Rebell aus der zweiten Reihe, meinetwegen auch der dritten – ein unbekannter Genosse, einer ohne Meriten, der nicht einmal sämtliche Strophen der Internationale kennt, die angeblich das Menschenrecht erkämpfen soll. Hört auf seinem Dual immer nur dies ganz neue 68er-Vinyl von Zappa, fühlt sich dabei „Absolutely Free“ und flucht auf all die öden „Plastic-People“. Abends hockt er gern mit einer Genossin auf der Matratze in seiner Studentenbude am Landwehrkanal. Und liest mit ihr Wilhelm Reich. Sie nimmt die Pille. Er liegt unten. Sexuelle Befreiung nennen sie das.
Mit all den jungen Wilden, die enthusiastisch die Freiheit besingen, dabei noch Marcuse, Debray und TseTung lesen, kommt der Bürger besser nicht in Kontakt: die sind ansteckend, eine verfluchte Seuche in Parkas, Lederjacken, Miniröcken und Cordjacketts…. „Ist doch so, Frau Schulze! Denken Sie nur an all diese Hippies: Haare bis sonstwohin, propagieren freie Liebe und pumpen sich in düsteren Teestuben mit Rauschgift voll, um noch besseren Sex zu haben. Was sind das nur für Zeiten? Unter’m Führer wäre das nicht passiert“… Wir wissen nicht, woher die Nachbarin der ollen Schulze ihre Informationen hat – auf alle Fälle nicht von TC Boyle, sein „DropCity“ erschien erst später -, aber vielleicht hat die Witwe Rosenow ja heimlich die neueste „Konkret“ gelesen, denn über „Liebe unter LSD“ schrieb es sich ganz prima und der junge Stefan Aust war damals schon, zwar noch nicht bei Augstein, dafür aber bei Röhl und Meinhof dabei: „„Die Hippies sind die professionellen LSD-Schlucker. Geschmückt mit Blumen, Glöckchen, Ohrringen und Ketten fordern sie den uneingeschänkten Drogenkonsum und die ganz, ganz freie Liebe. ….“ Ach, Stefan! War das so? Oder war das ganz anders?
I was born too late into a world that doesn’t care,
Oh I wish I was a punk rocker with flowers in my hair.
(sandi thom)
April 1968
Der schwarze Bürgerrechtler Martin Luther King wird in Memphis/Tennessie von einem Rassisten ermordet.
Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Thorwald Proll und Horst Söhnlein zünden Brandsätze in zwei Frankfurter Kaufhäusern. Die Justiz verurteilt sie letztendlich zu zwei Jahren Zuchthaus.
Attentat auf Rudi Dutschke. In Berlin. Der Bauhilfsarbeiter Josef Erwin Bachmann schießt Dutschke vor dem SDS-Büro am Kudamm drei Kugeln in Kopf und Brust. Bachmann trägt Zeitungsauschnitte bei sich: „Stoppt den Roten Rudi jetzt!“ (Deutsche Nationalzeitung)
Es ist furchtbar anzusehen, es sind die beiden Schuhe von Rudi Dutschke noch auf der Straße, es sind die Blutflecken zu sehen, sorgsam von Kreidestrichen umrahmt, und außerdem liegt das Fahrrad noch genau in der Stellung, in der Rudi Dutschke auf den Bürgersteig stürzte, nachdem er von den drei, vier Schüssen getroffen wurde. (RIAS)
Wer soll der Nächste sein? Demokraten, heraus zum Protest! Nehmt teil an den Demonstrationen in Mannheim und Heidelberg! Kauft das faschistische Mordblatt Caesar Springers nicht mehr! (Kurt W. Hockenheim)
Ach Deutschland, deine Mörder…! (Wolf Biermann)
Das Attentat auf Dutschke bleibt nicht folgenlos: Studentische Unruhen und Proteste zum Osterfest. Brände im Berliner Zeitungsviertel. Blockaden der Auslieferung von Springer-Zeitungen. Auch in Frankfurt. Proteste überall. In Esslingen informieren die Evangelischen Studentengemeinden der Region Ende April darüber, daß der dort ansässige „Bechtle-Verlag“ die Stuttgarter Ausgabe der BILD-Zeitung druckt. Mehr sagen sie nicht. Die Studenten fühlen sich hilflos ob der„vergifteten und aufgewühlten Atmosphäre“. Versuchen es stattdessen mit einem noch hilfloseren Aufruf zur Vernunft: „Bitte bemühen Sie sich, Ausschreitungen Ihrer Mitbürger gegen Studenten zu verhindern! Versuchen Sie dem Anliegen der Studenten mit Verständnis, nicht mit Vorurteilen zu begegnen! Lassen Sie sich nicht länger in das Freund-Feind-Denken einspannen!“
Die NPD zieht mit 9,8 % der Wählerstimmen in den Landtag von Baden-Württemberg.
Alles scheint möglich. Scheint! Im Dienste der irgendwie revolutionären Sache. Derweil geht in Springerzeitungen das hemmungslose „68er-Bashing“ weiter: von „jungen Herren mit roten SA-Manieren“ ist nach einem SDS-Tribunal die Rede, das die Enteignung des Springer-Konzerns fordert. Karikaturen von Studenten erscheinen: als langhaarige verlotterte Rüpel: Jede Menge Hass-Postings – damals schon!
Kampagnen des SDS können den Frauen zwar rational vermittelt werden, es fehlen ihnen aber die Voraussetzungen, die subjektiven Bedürfnisse der Frauen anzusprechen, deren Unterdrückung in der vompolitischen Kampf ausgenommenen „Privatsphäre“ unmittelbar und am stärksten erlebt wird. Doppelt frustriert sind die Frauen im SDS, wenn sie versuchen, dort politisch aktiv zu werden, dh wenn sie über die Beteiligung an Demonstrationen hinaus wollen, wenn sie Referate, reden halten, Diskussionbeiträge liefern. Das Erfolgsrelebnis ist ihnen versagt, weil auf ihre Beiträge niemals Bezug genommen wird. (..) Persönliche Entfaltung muss also identisch werden mit einer Praxis, die jetzt schon mögliche Momente einer zukünftigen Gesellschaft vorwegnimmt, einer Gesellschaft, die sowohl alle Lebensverhältnisse erotisiert, als auch Aggressionen produktiv macht. (ERKLÄRUNG des Aktionsrats zur Befreiung der Frauen, Berlin 1968)
Allein die die ununterbrochene produktive Verwertung und Austragung der vorhandenen Widersprüche ermöglicht den Lernprozess der Menschen, den Erziehungsprozess des Menschen, und damit die Permanenz der Revolution. Ohne die Herausbildung des „Neuen Menschen“ ist die permanente Revolution unmöglich. Und so haben auch wir in der Auseinandersetzung mit unserem herrschaftssystem „Neue Menschen“ zu werden. (Rudi Dutschke in: „Rebellion der Studenten oder Die neue Opposition“, Rowohlt, Reinbek 1968)
Wir wären gut, anstatt so roh – doch die Verhältnisse sind nicht so! (Dr. Strange)
Auf einem Teach-In vor wenigen Tagen haben wir durchgesetzt, dass wir folgende Forderungen stellen: Der Posten „Direktor“ wird aufgelöst und anstelle dessen tritt eine Kommission, die von Schülern und Lehrern gebildet wird. Dieser Forderung hat die Mehrzahl dieses Teach-Ins zugestimmt. (AUSS, Göttingen)
Wir sind ein Kollektiv von Studenten, die in der Knesebeckstraße ein Buchladen eröffnen. Wir wollen in diesem Laden auf unserer Art Bücher verkaufen und vorstellen. Ein verlaustes Ledersofa und angesägte Stühle bieten Ihnen Ruhe und Sicherheit. Sie wollen Gelesenes diskutieren? Darauf warten wir! Sie sollten uns einmal besuchen und sich umsehen. Aus unserem Buchprogramm: Alexander Kluge, Lebensläufe: 2,80.Salinger, Der Fänger im Roggen: 2,20, Henry Miller, Plexus: 5:20 Sigmund Freud, Die Traumdeutung, 4,80 DM
Wir waren oft in den Schlagzeilen und entwickelten uns zu einer richtigen Showtruppe. Rainer Langhans ließ sich ständig fangen, damit er sich am nächsten Tag in den Zeitungen sehen und ausschneiden konnte. Er hatte einen Privatordner, in dem er nur Sachen über sich selbst sammelte. (Bernd Kramer)
Opas Gewerkschaftsjugend ist tot! Wie weit die Entfremdung zwischen der alten Generation, die immer wie der die Zeit vor 1933 beschwor, und einem Teil der vorwärtsstürmenden unruhigen Jugend ging, zeigte sich als Bildungssekretär Hermann unter heftigem Protest erklärte, er glaube in der falschen Versammlung gelandet zu sein. Protest wurde auch laut, als DGB-Kreisvorsitzender Willi Ohm den Studentenführer Rudi Dutschke indirekt zum Urheber des Attentats auf Rudi Dutschke stempelte. (Neue Westfälische, Bielefeld, 22. April 1968)
Einige Zeit lang war die „Linke Baracke“ Zentrum der APO in Bielefeld. Etliche politische Aktionen und Demonstrationen der APO wurden mit Unterstützung der Falken aus der „Linken Baracke“ heraus organisiert, wie die Ostermärsche und Demonstrationen gegen die Notstandsgesetze woie den Vietnamkrieg.(…)Die wohl bekannteste Aktion, die auch bundesweite Beachtung fand, war der protest gegen die Benennung der Bielefelder Kunsthalle nach Richard Kaselowsky.(…) Mehrfach wurden die Linke Baracke und auch das Falkenbüro durchsucht, Flugblätter, Plakate und Zeitschriften wurden beschlagnahmt. Etliche Strafverfahren wg. Landfriedensbruch, wilden Plakatierens sowie Verunglimpfung der Bundesrepublik Deutschland wurden eingeleitet, aber später eingestellt. (Karl Gustav Heidemann in: „Linksruck“, Politische und kulturelle Aufbrüche in Bielefeld, Verlag für Regionalgeschichte, Bielefeld 2016)
„Hey, hey LBJ,
how many kids
did you kill today ?“
Am letzten Donnerstag durchwühlte ein Rudel von 10 Popos die Druckräume der Oberbaumpresse. Staatsanwalt Severing führte den Haufen an. Er suchte „Linkeck No.1“, fand aber keins. So zottelten sie alle wieder ab. Neuerdings soll es verboten sein, einen nackten Arsch abzudrucken und das Wort „vögeln“ zu veröffentlichen. Auch soll man plötzlich die Leute nicht mehr auffordern dürfen, den Staat kaputtzumachen, wenn der die Menschen kaputtmacht. (Linkeck No.3: „Frühlingsanfang“)
…er rührte an den schlaf der welt – spruch
auf einem leninplakat in einem leipziger bettengeschäft
get stoned and get together
macht kaputt was euch kaputt macht
müssen wir erst den staat zerschlagen
um dann joints rauchen zu können
oder müssen wir erst joints rauchen
um den staat zerschlagen zu können
(thorwald proll: „die wahrheit ist konkret“)
Dank an’s „APO-Archiv“ des Universitätsarchivs der Freien Universität Berlin für die großzügige Unterstützung. Und (nach wie vor) meine tief empfundene Begeisterung für Gerhard Seyfried, der eigens in seine digitalen Archive hinab stieg, um Illustrationen für das Kleine Rebellarium upzuloaden.