„Mach Dir meine Erinnerungen selber. Aber so, daß die Funken sprühen“, hat er gelacht, noch ein paar letzte Fakten auf den Tisch geworfen und mußte dann schon wieder weiter. Also habe ich meinen Schlund erfunden. Auch. Schließlich kannten wir uns lange genug. Haben es wild genug miteinander getrieben. Aber man erfuhr zu seinen Lebzeiten längst nicht alles von ihm. Und spürt heute dennnoch all das, was ihn bewegte. Schließlich sind da seine Bilder, die Zeichnungen, die Bücher, die Materialien. Die bleiben. Die erzählen. Von einem Leben, in dem einer suchte und auch fand. Auch die Farben. Auch Freunde. Die ihn nicht vergessen.
„Denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du musst Dein Leben ändern.“ Sie kennen Rilke, nehme ich mal an. Auch Schlund kennt Rilke. Und Schlund wurde oft gesehen, hat sein Leben oft geändert, mitunter nicht einmal Zeit gehabt, jenes Haus zu bauen, von dem der Rilke meint, dass es bezugsfertig sein soll, noch bevor im November das Laub die feuchte Erde deckt und der Wind die letzten Hoffnungen verweht.
Schlund residiert nun nicht mehr in Villa und Park, sondern in Mietwohnungen, Dortmund, immer noch Westfalen, bald in Münster, demnächst schon, da wird er bleiben – im gescheiterten katholischen Weimar, doch ist Scheitern ihm ja durchaus sympathisch: „Fängt man eben nochmal an!“, wird wohnen in Sichtweite von Buddenturm und Schanze, Promenadenring, im Kreuzviertel, mit Balkon, Bildern gestapelt in Flur und Küche und einer Menge neuer Ideen im Kopf, weil das Merken nie aufhört.
Schlund wird gesehen, wird bemerkt, hat gemerkt, wird vermerkt, aber auch bewundert – bewundert im Sinne von wundern, sich die Augen reiben, an Wunder glauben, nicht etwa: Die Zeit heilt alle Wunder, sondern Wunder gibt es immer wieder. Auch im Alter. Hat aber nicht nur Bilder gemalt (viele auch nicht gemalt), sondern auch Vor-Bilder gehabt. Hat sie gesucht, die Vorbilder auf einen Stuhl gesetzt und sie gefragt: „Wer bist Du, wie heißt Du, was machst Du mit mir, ich suche Dich schon so lange und jetzt bist Du endlich da!“ Und ist am Anfang ein wenig nervös, weil er so verdammt froh ist, dass da eine Begegnung möglich ist, wo vorher nur dieses Sehnen war. Also Erich Fried. Endlich Fried. Tagelang Fried! In London.
Wir wissen ja längst, dass so ein Schlund eine multiple Begabung ist, die uns mitunter verwirrt, weil wir viel zu oft nur das Eine, scheinbar ganz und gar Wichtige von einer Person wissen wollen, Zentralperspektive nennt sich das wohl, doch die hat er nicht, so nicht, denn dieser Schlund malt, schreibt, trägt vor, installiert, lehrt, belehrt, tut, was im Moment nötig ist, ach ja, Happenings und Radio hat er auch gemacht, egal, warum soll er nicht noch diesen Film drehen. Den über Fried, den viele einfach nur Erich nennen, weil er ihnen so nahe kam und keine Stelle in seinen Gedichten sie nicht sah und unter der Haut berührte. So ging es auch Schlund. Schwer bewegt war er.
Also macht er einen Film über Erich. Hat einen Kameramann, einen veritablen Regisseur, einen Tonmann, alles Männer, hoch motiviert, gespannt, dazu jede Menge Equipment, Betacams, Player, Licht, Mikrofone, Mischer, Stative, Kabelage und schau nur, da drängen sie mit all dem Zeug durch die Tür, gelb gestrichen ist die, und zu finden in der Dartmouth Road in London. Eben noch saß Erich, ein wenig gebeugt, in Jeans, schwarz sein T-Shirt, schwarz das Brillengestell, in seinem Erker am Schreibtisch, jetzt lässt er Schlund und sein Team in’s Haus und von hinten ruft schon Catherine, seine malende, zeichnende und fotografierende Frau: „Tee oder Kaffee?“
Schlund sieht Fried nicht zum ersten Mal. Das nicht. Er hatte den Erich schon Jahre zuvor eingeladen, als er noch all jene Verlage nach Dortmund zitierte, die sich keine coole Box samt Kühlschrank, Neonlicht und übelriechendem Teppichboden in den Frankfurter Messehallen leisten konnten, wollten: Alles kleine Verlage und wichtig. Unbekannte Autoren und trotzdem wichtig. Kleine Auflagen und wichtig. Widerständiges, Widerborstiges, nichts für große Verlage und sehr wichtig. Salt of the earth: Alternative Buchmesse eben. Eine Zeit war das, keine schlechte übrigens, in der sich zum Frankfurter Teil noch das Gegenteil gesellte. Nur an einem anderen Ort.
Und Fried war an diesen anderen Ort gekommen, weil auch ihm Kleines wichtig war. Nicht nur der kleine Wagenbach mit seinen roten Socken war ihm wichtig. Auch ganz Kleines. Fried hat ja selbst angstgeduckte Schmetterlinge aus dunklen Hausnischen gerettet,…hat mir einmal Ditha B. erzählt, die so viele Geschichten von Fried weiß, weil sie selbst aus Wien und beide zusammen und es war einmal am Währinger Gürtel.
Also kam der Erich in diese Dortmunder Nische, las fast hundert Gedichte ohne Vaterland und plötzlich haben beide Kontakt, Schlund verbeugt sich, meint das ernst, sie sehen sich in die Augen, tasten sich ab, nein, es war radikaler, sie fielen ineinander, vielleicht fiel auch nur Schlund, weil sie danach bis in die Nacht und überhaupt. Zwei Jahre später dann Schlunds Anruf. Wegen des Films. Wollen wir? Aber ja doch!
„Tee, bitte!“ Schließlich sind sie in England, in London, sitzen am Küchentisch und Erich zeigt dem Schlund seine selbstgemachten Teesiebe: „Aus Nylonstrümpfen“, seufzt er. Der kleine Mann war ein begnadeter Bastler, ein Erfinder, improvisierte hemmungslos und vielleicht liebte er Nylonstrümpfe ebenso fanatisch wie der Schlund lange Röcke, unter denen er sich immer noch gern zu schaffen machte. Jedenfalls hatte der Erich, Nylons hin oder her, eine Menge Liebschaften auf dem deutschsprachigen Festland, „Liaisons Dangereuses“ sagen die vermeintlichen Profis, doch ist nicht verbürgt, ob es deren Strümpfe oder Strumpfhosen waren, die er da. Man weiß es einfach nicht.
(to be continued)
Illustrationen: Joern Schlund