vonMesut Bayraktar 05.10.2017

Stil-Bruch

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Die Theatersaison ist eröffnet und uns erwarten spannende Projekte und Premieren in Europas größtem Dreispartenhaus

Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich bin nahezu auf Theaterentzug. Doch nun ist das Sommerloch endlich vorüber und die Theaterhäuser der Republik öffnen wieder ihre Pforten. Nun heißt es: Vorhänge auf und Bühne frei! In Stuttgarter Variation: „Scheinwerfer raus!“, wie die vier Intendanten des größten Dreispartenhauses Europas, das Stuttgarter Staatstheater, im Intendanteninterview erklären. Nachdem nun der Prolog der Spielzeit im linken Trauerspiel an der Berliner Volksbühne durch die Räumung der „Doch-Kunst“-Besetzer auf Strafanzeige des Eventmanagers, Herrn Chris Decron, abgeschlossen und ein weiterer Akt dieses Dramas beendet wurde, worin sich im Übrigen der tragische Held und Kultursenator Berlins, Klaus Lederer (Die LINKE), mehr und mehr in sein Scheitern verstrickt hat, wird die neue Spielzeit 2017/2018 bundesweit eröffnet. Richten wir unseren Blick auf die Landeshauptstadt Baden-Württembergs. Was erwartet uns in der kommenden Spielzeit im Staatstheater Stuttgart für Schauspiel?

Spielzeit 2017/2018 im Staatstheater Stuttgart

In der aktuellen Spielzeit-Broschüre des Hauses erklärt uns der leitende Dramaturg, Jan Hein, und der Schauspielintendant, Armin Petras, der wider Erwarten und sicherlich auch wegen der pausenlosen Kritik seiner Arbeit durch die Feuilletonrezensenten seine Intendanz in Stuttgart nach der Saison beenden wird, welche Motive und Absichten die kommende Spielzeit verfolgt.
Signifikant heißt es einleitend: „Der Zustand von Stabilität, von Sicherheit, ist ein Wunsch, den Menschen in sich tragen – gleichzeitig wünschen wir uns Veränderung, Exzess und Wechsel.“ Mit anderen Worten: man weiß um sein konservatives und sozialliberales Publikum aus dem Bürgertum, sichert ihm Wohlwollen für seinen gönnerhaften Gemütszustand zu, der seine Privilegien wie Stabilität und Sicherheit ungern gefährdet sieht, und möchte doch der Verantwortung des Theaters gerecht werden, indem man seine Veränderungs-, Exzess und Wechselwünsche wie ein Büroangestellter einem Notar vorlegt, um sie absegnen zu lassen. Gesellschaftliche Verhältnisse und das tagespolitische Karussell sind immer das Bühnenbild der Theaterpolitik eines Schauspielhauses. Warum man sich aber Exzesse wünscht, was ich für sensationsfreudige, leere Luft halte, um die satten Gemüter aus ihrer Langeweile zu wecken, das möchte ich hier nicht weiter ausführen. Auch wird mit dem Wunsch nach Veränderung und Wechsel, was für sich betrachtet vernünftig ist, nicht mindestens eine griffige Stoßrichtung angezeigt, die etwas Orientierung geben würde. Jedenfalls ist mit diesen Worten die programmatische Ausrichtung, die etwas an Nietzsches Seiltänzer erinnert, erklärt. Man wünscht sich angesichts polarisierender Zeiten etwas Offenheit von der besorgten Mittel- und Hochschicht, die, wie man ausdrücklich verstehen kann, ihren privilegierten Stand nicht aufgeben möchte. „Dialog, durchlässige Grenzen, Membranen, heikle Balancebeziehungen zwischen Fragilität und Stabilität“ sind die Schlussfolgerungen, die die künstlerische Leitung für die neue Spielzeit zieht, weil sie das „Theater als Ort für eine offene Gesellschaft“ begreift. Diese Schlussfolgerungen „beschreiben auch die Inhalte der neuen Spielzeit.“ Was sind die Inhalte, was die Premieren, was wird uraufgeführt?

Premieren

In der neuen Spielzeit gibt es vierzehn Premieren. Darunter sind freilich nach dem Trend der Zeit fünf Romanadoptionen zu finden, was ich für ein unmögliches Unterfangen halte, das meist zwei Gründe hat: 1. Handelt es sich regelmäßig um erfolgreiche Romane, von deren Theateradaption man sich einfach das Klingeln der Kassen erwartet (Ist es nicht aufregend Dostojewskis „Brüder Karamasow“ leibhaftig auf der Bühne zu sehen?); und 2. glaube ich, dass das ein Symptom für den zeitgenössischen Mangel an guten Theaterstücken und vielleicht schöpferischen DramatikerInnen ist. Wie dem auch sei, darum geht es in diesem Artikel auch nicht, auch wenn ich noch hinzufügen möchte, dass die Technik eines Romans und die Komposition eines Theaterstücks genuin gattungsfremd zueinander stehen und diese Strukturdifferenz nicht durch Adaptionen oder Transferleistungen überwunden, sondern allenfalls durch die selbstständige Neufassung eines Stücks, in dem der Stoff des Romans lediglich Arbeitsmaterial darstellt wie die Epen Homers für die alten Tragödiendichter, aufgehoben werden kann. Trotz der Fluidität aller Gattungen bleibt ein Roman genuin episch und ein Theaterstück genuin dramatisch; ganz zu schweigen, dass Romane selten nach ca. zwei Stunden abgeschlossen werden. Da dieser Umstand heute regelmäßig übergangen wird, ist und bleibt der Eindruck in Inszenierungen von Romanadaptionen, die sicherlich auch schöne Bilder und katharsische Momente zu erzeugen vermögen, ein und derselbe: die Inszenierungen kennzeichnen sich mit Trägheit, Schlaffheit, Müdigkeit und Inkonsistenz. Jedenfalls wurde ich bisher nicht vom Gegenteil überzeugt.

Zurück zu den vierzehn Premieren: Was bietet die kommende Spielzeit im Stuttgarter Staatstheater?
Die Eröffnungsinszenierung am 7. Oktober wird mit dem Klassiker der deutschen Moderne und dem meistbesuchten Theaterstück Deutschlands beschritten. >Faust I< von J.W. Goethe wird in Regie von Stephan Kimmig inszeniert. Dabei will der Regisseur auf die „drei jungen Herzen, die in der Tragödie erster Teil wohnen“ lauschen, nämlich „auf das unstillbare Verlangen eines vom Durst nach Leben Getriebenen, auf die Künste und Verlockungen eines großen Verführers und auf die Hingabe einer in ihrer Liebe radikalen, jungen Frau.“ Das klingt nach dem klassischen Kanon des Fauststoffes. Mal sehen, ob man uns damit noch überraschen werden kann. Wir hoffen es.
Außerdem, da freue ich mich sehr drauf, wird ab dem 16. Februar 2018 >König Lear< vom Dichtergenie W. Shakespeare in Regie von Claus Peymann inszeniert. Man möchte das „Nichts“, das Cordelia, die jüngste und meist geliebte Tochter des amtsmüden Königs, diesem auf seine Preisfrage antwortet, untersuchen. Denn „dieses Nichts ist das Fanal einer dunklen Apokalypse.“
Auch freue ich mich auf >Die schmutzigen Hände< von J.P. Sartre, das in Regie von Lilja Rupprecht ab dem 13. April nächsten Jahres inszeniert wird, da die Frage nach der Möglichkeit einer Koinzidenz von moralischer Integrität und politischem Handeln heute in Zeiten eines politischen Zwecknihilismus große Aktualität hat, will man die bestehenden Ausbeutungsverhältnisse überwinden.
Ab dem 24. November diesen Jahres erwartet uns das „Fantasieprodukt“ >Lulu<, „eine Monstretragödie“ wie Frank Wedekind sein Stück nannte. Die Regie führt Armin Petras, Musik erwartet uns von The Tiger Lillies. 1904 wurde das Stück uraufgeführt und war ein voller Erfolg: nämlich ein Theaterskandal. Hoffen wir, dass es 113 Jahre später ein Skandal in Stuttgart wird. Denn jede erfolgreiche Theaterinszenierung war und ist ein Skandal.
Henrik Ibsen gehört natürlich zu jeder Spielzeit. >Baumeister Solness< wird somit in Regie von Dusan David Parizek am 20. April 2018 aufgeführt, wo wir die steile Karriere eines Baumeisters sehen werden, der seine Schuldgefühle durch monströse Bauprojekte planiert.
Ferner wird René Pollesch mit seinem Stück >Was hält uns zusammen wie ein Ball die Spieler einer Fußballmannschaft<, das am 27. Oktober in Stuttgart unter seiner Regie uraufgeführt wird, auf der Suche nach dem Gottesteilchen – wie es in der Physik heißt – in sozialen Verhältnissen sein. Wir bleiben gespannt, worauf sein „WIR“ hinauslaufen wird.
Auch erwarten uns nächstes Jahr absurd klingende, aber beim zweiten Blick spannende Projekte wie >Das 1. Evangelium<, das frei nach dem Matthäus-Evangelium in Regie von Kay Voges ab dem 19. Januar aufgeführt wird, die >Uraufführung< vom Künstlerkollektiv Hofmann&Lindholm am 16. März, das ein Motiv aus Goethes >Faust< des zweiten Teils aufgreift, wo Faust sich auf den „Weg zur Quelle aller Bilder, zum Ursprung des Sichtbaren“ macht, und schließlich sehen wir ab dem 23. Februar >Ein Sommernachtstraum im Cyber Valley<, in dem Shakespeares Zauberwald zum psychedelischen Maschinenklangländle von und mit Schorsch Kamerun verklärt wird.

Nun die Romanübertragungen, die für sich sprechen:

  • >Das große Heft< nach dem Roman von Ágota Kristóf in Regie von Jonas Corell Peterson am 8. Oktober 2017
  • >Moby Dick< nach dem Roman von Herman Melville in Regie von Jan-Christoph Gockel am 20. Januar 2018
  • >Der Scheiterhaufen< nach dem Roman von György Dragomán in Regie von Armin Petras am 14. Oktober 2017
  • >Der Zauberer von Oz< nach dem Roman von L. Frank Baum in Regie von Wolfgang Michalek am 26. November 2017
  • >1984< nach dem Roman von George Orwell in Regie von Armin Petras am 27. Mai 2018.

Damit können sich Theaterinteressierte und –macher definitiv auf die neue Spielzeit im Stuttgarter Staatstheater freuen, bis im nächsten Jahr, wenn das Sommerloch wieder zu gähnen beginnt und die Theaterpforten geschlossen werden, Brechts Shen Te uns rhetorisch deklamieren wird:

Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen
Den Vorhang zu und alle Fragen offen.

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