Mit „Rückkehr nach Reims“ zeigt Eribon, dass Linksintellektuelle noch leben. Brauchen wir einen Klassenbegriff, um die Verhältnisse zu verstehen und zu verändern?
Es kommt nicht darauf an,
was man aus uns gemacht hat,
sondern darauf, was wir aus dem machen,
was man aus uns gemacht hat.
Jean-Paul Sartre
aus „Saint Genet, Komödiant und Märtyrer“
Die autobiografische Analyse, wie Eribon das Buch selbst charakterisiert, ist eines der wichtigsten, fulminantesten und ehrlichsten Bücher, die 2016 in deutscher Sprache erschienen sind, obwohl es bereits 2009 erstmalig in Frankreich verlegt wurde. Seither hat es zu Recht hohe Wellen im Gedankenverkehr des Okzidents geschlagen und einige leckfrei gedachte Dämme durchbrochen. Nicht nur linke Zeitungen und Zeitschriften diskutieren seither über den Sachgehalt dieses Buches. Auch bürgerliche Zeitungen und Zeitschriften haben sich ernsthaft mit diesem Buch auseinandergesetzt. Und es bleibt abzuwarten, wo die Debatte münden wird, nicht zuletzt da Eribon mit einem Folgewerk „Gesellschaft als Urteil,“ das dieses Jahr auf deutsch erschienen ist, bereits nachgeschossen hat. Aber bleiben wir bei „Rückkehr nach Reims.“ Denn das zentrale Thema dieses durchaus literarischen Buches stellt in provokanter und doch mit Hilfe kultureller Referenzen in gezügelter Weise interessante Fragen darüber, warum die arbeitende Klasse in Frankreich sich mehr und mehr in die Arme der Rechten wirft, oder besser: in die Arme der Rechten gedrängt wird.
Ein Kind der Arbeiterklasse
Didier Eribon ist homosexuell, Philosoph und lehrt derzeit Soziologie an der Universität Amiens. Seinen schriftstellerischen Durchbruch erfuhr er vor allem durch seine Foucault-Biografie in den 90er Jahren. Daneben schreibt er viel über Homosexualität und die Repression derselben, über gesellschaftliche wie politische Herrschaftsstrukturen und über philosophische Fragen. Er steht, wie unschwer durch die Lektüre der „Rückkehr nach Reims“ zu erkennen ist, in der allgemeinen Tradition französischer, skeptischer Aufklärer und konkret in der Linie der Existentialisten à la Jean-Paul Sartre. Sartre, Genet, Foucault, Bourdieu und immer wieder Sartre – sie bilden im vorliegenden nonfiktionalen Roman sein intellektuelles Koordinatensystem, auf das er immer wieder zurückkommt, will er Phänomene einordnen und erklären. Didier Eribon ist partiell einer dieser prototypischen französischen Intellektuellen, denen die deutsche Biedermanns- und Philisterkultur seit Voltaire, Rousseau, Diderot oder auch Racine und Molière gerne noch heute nachdichtet, sie seien streitsüchtige, autarke, oberflächliche Denker gewesen, die den tiefen Geist in den Dingen nicht erspähen. Natürlich ist das Unsinn! Aber da diese Rezension deutschen Lesern vorgestellt wird, muss dies klargestellt werden. Didier Eribon ist eben nur partiell einer dieser prototypischen Intellektuellen aus dem Schoß Frankreichs. Denn was ihn von den aufgezählten – sieht man von Genet und Bourdieu ab – unterscheidet: Didier Eribon, 1953 geboren, ist ein Kind der Arbeiterklasse.
In das Milieu dieser Klasse kehrt er nach einigen Jahrzehnten seiner Klassenflüchtigkeit zurück. Sein durch die Zeitverhältnisse zur Gewalttätigkeit deformierter Vater ist gestorben. Zur Bestattung erschien er nicht. Umso mehr entwickelte sich im Gespräch mit seiner Mutter, mit der er Fotografien aus seiner Kindheit und Jugend anschaut, ein retroperspektivisches Panorama, worin ihn seine Klassenherkunft trotz aller gelungenen und misslungenen Emanzipationsbestrebungen wieder einkreist und erschütternd einfängt. Ich hatte wieder – aber war es nicht die ganze Zeit in meinem Kopf und in meinen Leib eingeschrieben gewesen? – dieses Arbeitermilieu vor Augen, dieses Arbeiterelend, das aus den Physiognomien der Häuser im Hintergrund spricht, aus den Inneneinrichtungen, aus den Klamotten, aus den Körpern selbst. Es ist immer wieder bestürzend, wie unmittelbar fotografierte Körper aus der Vergangenheit, viel mehr noch als bewegte oder leibhaftig vor uns stehende, einen sozialen Körper darstellen, den Körper einer Klasse. Und wie sehr die fotografische Erinnerung jeden Einzelnen, indem sie ihn (…) an seine Klassenherkunft erinnert, in seiner sozialen Vergangenheit verankert. Das Private und Intime, wie es aus diesen alten Bildern spricht, schreibt uns wieder in unsere ursprüngliche gesellschaftliche Kategorie ein, in Orte der Klassenzugehörigkeit, in eine Topografie, die unsere scheinbar persönlichsten Erfahrungen und Beziehungen innerhalb einer kollektiven Geschichte und Geografie verortet, ganz so, als hinge jede individuelle Genealogie von einer sozialen Archäologie oder Topologie ab, die ein jeder als eine seiner tiefsten Wahrheiten, vielleicht als die bewussteste überhaupt, in sich trägt.
Gravitationszentrum aller Unterdrückten
Mit diesem regressiven Format des Zurück-Wendens entfaltet sich die Aufmachung der „Rückkehr“, der Heimkehr nach Reims, zur arbeitenden Klasse. In den knapp 240 Seiten, die sich reibungslos und leicht lesen lassen, entsteht nach und nach eine in Dimensionen gebrochene Fotografie, die soziale Reproduktionsmechanismen nachzeichnet, dem der Einzelne nur mit größter Mühe, Verleugnung der Klassenherkunft, d.h. Opportunität, und glücklichem Zufall entrinnen kann, gleichwohl er so oder so Opfer derselben bleibt. Dieses Glück hatte auch Eribon, wie er sagt, nämlich durch seine Homosexualität. Die Homosexualität, die in den 60er und 70er Jahren starken gesellschaftlichen und juristischen Repressionen ausgesetzt war, bildete insbesondere in kosmopolitischen Milieus von Paris klassenlose bzw. klassenübergreifende Nischen, worin Homosexualität unter dennoch größter Vorsicht vor Ächtung oder Gewaltakten Homophober ausgelebt werden konnte. Solche subkulturellen Räume, die sich aus den unzähligen, der bürgerlichen Gesellschaft immanenten Widersprüchen erschließen, hatten Eribon ermöglicht, einen Schritt aus dem Arbeitermilieu herauszusetzen, wo er nicht selten ebenso einer gewaltsamen Xeno- und Homophobie begegnete. Dieser Schritt, so nennt er es selbst, ist ein unerlässlicher epistemologischer Bruch mit dem eigenen Milieu, um der Exteriotität der Klassenherkunft überhaupt zu begegnen, die die faktische Wahrheit von Klassenstrukturen und -verhältnissen, das Dasein der Klasse als solche, die Systematik der sozialen Reproduktion und freiwilligen Selbstexklusion, mit der die Beherrschten ihr Beherrschtwerden sanktionieren sehen lässt, ja handgreiflich macht. Denn „die Position innerhalb des Klassengefüges hat sehr großen Einfluss darauf, welche Wege als erstrebenswert wahrgenommen werden, von der Einschätzung ihrer Realisierbarkeit ganz zu schweigen. Als ob es zwischen den sozialen Welten gläserne Wände gäbe.“ Wie er selbst schreibt, war der Preis der sexuellen Emanzipation die Flucht vor der sozialen Emanzipation der Arbeiterklasse. Mit „Rückkehr nach Reims“ stellt er die dadurch über Jahrzehnte angesammelte Erfahrung vor, die darin mündet, dass die endgültige sexuelle Emanzipation der Homosexualität – weiterhin ist sie massiven Repressionen ausgesetzt – die soziale Emanzipation der arbeitenden Schichten voraussetzt. Denn die Arbeiterklasse ist in einem kapitalistischen System das Gravitationszentrum aller Unterdrückten und Beherrschten.
Neben dieser Verbindung, die hier und da und vor allem zum Ende aufgegriffen wird, berichtet er mit Geduld und Wut, mit Schärfe und Klarheit, mit Verstand und Herz – und darum geht es in diesem Buch hauptsächlich – den Verlauf seiner Versubjektivierung zum Intellektuellen vor dem Hintergrund historisch-politischer Umstände. Und gerade diese Passagen sind von herausragendem Interesse. Zumal er gezielt und gekonnt sozialanalytische Passagen zwischen nüchternen Berichten aus Kindheit und Jugend einschiebt, die eine mikroskopische Erhellung der bewusstseinsbestimmenden Seinsumstände eines Arbeiterkindes abwirft. In Bezug auf seinen Vater, heißt es an einer Stelle: „Der Schlüssel zu seinem Sein: wo und wann geboren wurde. Ein Segment des sozialen Raums und der historischen Zeit entschied darüber, welchen Platz er in der Welt einnehmen, wie er die Welt entdecken und welchen Weltbezug er aufbauen konnte. Sein beinahiger Wahnsinn und die daraus resultierende Beziehungsunfähigkeit hatten letztlich wenig Psychologisches im Sinne eines individuellen Charakterzuges. Sie waren Folgen eines präzise situierten In-der-Welt-Seins. Und daher: kam ich zu dem Schluss, dass alles, was mein Vater war, was ihm vorzuwerfen und wofür ich ihn gehasst hatte, von der Gewalt der sozialen Welt geformt worden war. Diese Gewalt der sozialen Welt, die ihn und seine Familie geformt hatte, schildert er mit Wechselbezügen zum Individuellen und Persönlichen, was die Nachvollziehbarkeit erleichtert. Die Wörter wirken plastisch.
Rechtsruck und Metamorphose der politischen Linken
Die wohl größte Wogen schlagende Beobachtung dieser autobiografischen Analyse ist jedoch, dass sich seine im Arbeiterelend durchkämpfende Familie damals stets den kommunistischen Kandidaten, also die klassenbewussten und auf der Höhe der Zeit Politik machende Linke wählte und in dieser Selbstdelegation an die Wortführer, durch deren Vermittlung die Arbeiter als konstituierte Gruppe und selbstbewusste Klasse existierten, sich die Selbstkonstitution als politisches Subjekt vollzog. Und wenn sich am Wahlabend wieder einmal abzeichnete, dass die Rechte gewonnen hatte, folgte der Wutausbruch; man ereiferte sich über die ›gelben‹ Arbeiter, die ›gaullistisch‹ und somit gegen sich gestimmt hätten.
Einige Jahrzehnte später, stellt er fest, stimmte seine eigene Familie gegen sich. Sie begann Front National zu wählen, eben jene Rechte, die ursprünglich einen Wutausbruch erzeugte. Eribon formuliert kluge Fragen zum ›Warum?‹ dieser Entwicklung. Denn der Widerspruch ist offensichtlich. Beginnend mit der neokonservativen Wende der 70er und 80er im Westen stellt er fest, dass die sozialistische Linke sich einer radikalen, von Jahr zu Jahr deutlicher werdenden Verwandlung unterzog und sich mit fragwürdiger Begeisterung auf neokonservative Intellektuelle einließ, die sich unter dem Vorwand der geistigen Erneuerung daranmachten, den Wesenskern der Linken zu entleeren. Es kam zu einer regelrechten Metamorphose des Ethos und der intellektuellen Koordinaten. Nicht mehr von Ausbeutung und Widerstand war die Rede, sondern von ›notwendigen ›Reformen‹ und einer ›Umgestaltung‹ der Gesellschaft. Nicht mehr von Klassenverhältnissen oder sozialem Schicksal, sondern von ›Zusammenleben‹ und ›Eigenverantwortung‹. Die Idee der Unterdrückung verschwand aus dem Diskurs der offiziellen Linken und wurde durch die neutralisierende Vorstellung des ›Gesellschaftsvertrags< ersetzt, in dessen Rahmen ›gleichberechtige‹ Individuen (gleich? Was für ein obszöner Witz!) auf die Artikulation von Partikularinteressen zu verzichten (das heißt zu schweigen und sich von den Regierenden nach deren Gusto regieren zu lassen!) hätten. Dann fasst er seine Beobachtung zusammen: Die linken Parteien mit ihren Partei- und Staatsintellektuellen dachten und sprachen fortan nicht mehr die Sprache der Regierten, sondern jene der Regierenden, sie sprachen nicht mehr im Namen von und gemeinsam mit den Regierten, sondern mit und für die Regierenden, sie nahmen gegenüber der Welt nunmehr einen Regierungsstandpunkt ein und wiesen den Standpunkt der Regierten verächtlich von sich, und zwar mit einer verbalen Gewalt, die von den Betroffenen durchaus als solche erkannt wurde. Unter anderem hieraus folgert er: So widersprüchlich es klingen mag, bin ich mir doch sicher, dass man die Zustimmung zum Front National zumindest teilweise als eine Art politische Notwehr der unteren Schichten interpretieren muss. Sie versuchten, ihre kollektive Identität zu verteidigen, oder jedenfalls eine Würde, die seit je mit Füßen getreten worden ist und nun sogar von denen missachtet wurde, die sie zuvor repräsentiert und verteidigt hatten. Das ist nicht zuletzt der Protektionismus der Arbeiter und Abgehängten, der von den Rechten ausgebeutet wird. Der Protektionismus der Arbeiter, der kapitalistisch bedingt ist, ist die ohnmächtige, ökonomische Antwort der Arbeiterklasse, die ihre politische Macht und politische Selbstverständigung als soziale Klasse mit der „Metamorphose“ der politischen Linke verlor und nun der schrankenlosen, radikalen Belagerung durch das Kapital ausgeliefert wird. Und in Bezug auf seine zwei Brüder, die ebenfalls Front National wählen, stellt er mit Bedauern fest: Dass sie für eine Partei, die mir über alles verhasst ist, und später für den Präsidentschaftskandidaten der traditionellen Rechten stimmten, lässt sich andererseits jedoch so unmittelbar aus sozialen Gesetzmäßigkeiten ableiten und so perfekt in ein Schema der gesellschaftlichen Schicksalshaftigkeit einordnen, dass es mich perplex macht. Solchen Beobachtungen geht er – freilich als Soziologe und bedauerlicherweise weniger als Ökonom, was man ihm aber nicht verübeln kann, hat er doch ein literarisches, nicht wissenschaftliches Buch geschrieben – auf den Grund und stellt dabei äußerst wichtige und diskutable Thesen auf, in denen mindestens ein essentieller Teil der Wahrheiten schlummert, die unerlässlich sind, will man die gesellschaftliche Wirklichkeit heute verändern.
Der Begriff der Klasse
Nun habe ich aber reichlich aus dem Buch zitiert. Aus dem Buch lässt sich noch viel mehr zitieren, vor allem, wenn man sich die feinsinnigen Ausführungen zur Scham der Unterdrückten vergegenwärtigt, mit dem er als homosexuelles Arbeiterkind sein Leben lang bis heute zu kämpfen hat. Möglicherweise bietet ein anderer Rahmen eine umfassende Auseinandersetzung mit diesem wichtigen Buch des Jahres 2016, das uns unerbittlich und hellsichtig daran erinnert, dass wir in einer Klassengesellschaft leben, in der die Herrschenden von oben die produzierenden Beherrschten nach ihrem Bedürfnis deformieren, dabei aber mit Blick auf eigene Erfahrungen mahnt, die Arbeiterklasse weder zu mythologisieren noch zu tabuisieren. Denn beides entfremde, was unanfechtbar richtig ist, von den Bedürfnissen und dem Weltbezug der entrechteten Arbeiterklasse, ihrer Situation und ihrem Dasein, als dass sie dieselben ausformulieren würde. Die wichtigste erste Erkenntnis des Buches ist: Wenn man ›Klassen‹ und Klassenverhältnisse einfach aus den Kategorien des Denkens und Begreifens und damit aus dem politischen Diskurs entfernt, verhindert man aber noch lange nicht, dass sich all jene kollektiv im Stich gelassen fühlen, die mit den Verhältnissen hinter diesen Wörtern objektiv zu tun haben.
Eines ist sicher – das kann ich mit meinen eigenen Kindheits- und Jugenderfahrungen bestätigen, der ich aus einer durch und durch Arbeiterfamilie komme und der Einzige bin, dem ein Studium ermöglicht wurde – Kinder der arbeitenden Klasse werden diesem Buch bereits nach den ersten Seiten größte Anteilnahme schenken und Aufmerksamkeit zuwenden. Gerade in den literarischen, weniger analytischen Abschnitten, in denen die Herrschaft der Nöte und des materiellen wie kulturellen Elends über Sein und Bewusstsein einer Arbeiterfamilie geschildert werden, wird man unschätzbare Selbstverständigung erfahren, die für gewöhnlich unartikuliert bleibt und sich sodann ebenso gewöhnlich in undefinierbare Scham oder undefinierbare Wut, kurz in Verwirrung verwandelt. Ein Arbeiterkind braucht nur an seine Schulzeit erinnert werden und wird mit Eribon feststellen können: Ein Krieg ist im Gange gegen die Beherrschten, und die Schule ist einer ihrer Schauplätze.
*Beitragsbild: Lukas Schepers
*Cover: SUHRKAMP
[…] Mut dieses Romans, und auch die Sprachgewalt. Hier wurzelt die Verwandtschaft mit Didier Eribons Rückkehr nach Reims, das, eben weil es sich mit der revitalisierenden Handhabbarmachung des Klassenbegriffs […]