Mit Kasimir und Karoline erfindet Stefan Pucher neue Formen des Realismus und zeigt den Umfang kapitalistischer Macht in der Liebe auf – ein nachhallendes Theatererlebnis
Nun habe ich die Inszenierung Kasimir und Karoline von Stefan Pucher am Stuttgarter Staatstheater schon zwei mal gesehen, einmal kurz nach der Premiere in der letzten Spielzeit und das zweite Mal als Wiederaufnahme in der laufenden Spielzeit. Ich muss offen und ehrlich sagen: fantastisch! Die Inszenierung ist in jeder Hinsicht fantastisch. Statisten, Schauspieler und Musiker kommen zusammen. Das Team um Pucher herum hat eine beeindruckende Arbeit geleistet und es geschafft, das Volksstück Horváths, uraufgeführt im Jahr 1932, ins soziale Chaos der Gegenwart zu überführen.
Peer Oscar Musinowski zeigt uns einen wütenden und leidenschaftlichen Kasimir, den er auf der Bühne mit seiner drahtigen Physiognomie nahezu inkarniert. Paul Grill habe ich in der Rolle Egon Schürzingers, ein kleinbürgerlicher Zuschneider, der mehr weiß als er denkt, bisher vielleicht in seiner Bestleistung erlebt. In jeder Hinsicht hat er überzeugt, so als sei die Rolle für ihn geschrieben worden. Felix Mühlen verkörpert in der Rolle Franz Merkls, Kleinganove und Autoknacker, die soziale Gewalt der Verhältnisse in ihrer rauesten und archaischsten Abstufung – und Sandra Gerling, die Erna spielt, brilliert wie immer mit ihrem intelligenten Facettenreichtum, ihrer mächtigen Sprechweise und der rationalen Leidenschaft ihrer Rollenhingebung, ohne sich in ihr wie eine Brausetablette aufzulösen. Vor allem ein Monolog im letzten Drittel der Inszenierung – ein Offenbarungsmonolog der sozialen Vernunft, der planmäßig von kratzenden Bassschlägen übertönt und mit einer Stripteasestange, umzwirbelt von einer leicht bekleideten Karoline, überlagert wird – wird von ihr inhaltlich und gestisch hervorragend vorgetragen. Hier spricht der Geist des Stücks durch Sandra Gerling als Erna hindurch. Man darf sich nur nicht ablenken lassen.
Neben den Schauspielern ist auch ein Wort zu dem Bühnenbild, für das Stéphane Laimé verantwortlich war, zu sagen: Die Aufführung beginnt mit einer breitflächigen Videoprojektion, auf der Militärs, Nazis und Hitler, kurz der faschistische Terror zu sehen ist, der seine triumphale Barbarei verkündet. Dann steht dem Publikum in einem dunklen, nebligen Raum eine Wand aus weißen Luftballons gegenüber, die wie Pflanzenstränge in die Höhe ragen. Zunächst – wie soll es auch anders sein – treten Kasimir und Karoline auf der Bühne auf. Die Exposition wird hergestellt. Der Konflikt ist artikuliert. Man fragt als Zuschauer nicht mehr danach, was geschehen wird, sondern wie dieses >was< sich vollstrecken wird. Während Kasimir dann zwischen den Luftballons verschwindet, springt mit zwei, drei rätselhaften Klaviertasten von anderer Seite Egon Schürzinger auf die Bühne. Eine krimihafte Atmosphäre erstreckt sich durch die Fiktion von Raum und Zeit. Nachdem Schürzinger wieder zwischen den Ballons verschwindet, springt Kasimir ebenfalls durch sie hindurch wieder auf die Bühne, so als reinige die Wand aus Luftballons die Figuren von den Sorgen des Alltags, den die Weltwirtschaftskrise prädisponiert. Schließlich spielt das Volksstück auf dem Münchener Oktoberfest und das Oktoberfest steht gemeinhin für künstlich Aufrecht erhaltene Provinzialität, für Gemüt, Bier, Konservatismus und Dummheit. Die Luftballons als symbolischer Schein der Freude und Sorglosigkeit bereiten die Figuren auf ihren Sturz vor. Auf der anderen Seite muss man durch Luftballons gehen, um mit Karoline zu sprechen, die sich selbst wie ein Luftballon verhält; schöne Ironie. Plötzlich rollt die Wand aus Luftballons zur Seite und aus dem tiefen Hintergrund der Bühne fährt ein rotes Gerüst nach vorne, das sich dann mit einem von der Decke absenkendem Gerüst verbindet und zusammen die rote Achterbahn ergibt, mit der Karolines Vergnügungswille eröffnet wird; ein Vergnügungswille, der Achterbahn fährt, um vor seiner Willenslosigkeit zu fliehen. Neben solchem Bühnenspektakel tauchen weitere auf, die den Kausalnexus des Volksstücks nicht nur explizieren, sondern die Türen und Fenster öffnen, damit er über sich selbst hinausgehen kann. So eine Kreativität verdient Achtung, wie ich finde. Stéphane Laimé gibt dem Volksstück Raum, damit es atmen kann.
Und die Liebe höret nimmer auf
Kasimir und Karoline spielt im Schatten der Weltwirtschaftskrise 1929, wie erwähnt, auf dem bunten, lederhosenburlesken Oktoberfest. Ein Zeppelin wird als Ereignis des Tages in die Luft steigen, was Kasimir rasch als römisches Prinzip von panem et circenses, also Brot und Zuckerspiele durchschaut. Kasimir, mit proletarischem Klassenbewusstsein gerüstet, ist Chauffeur. Am Vortag wurde er entlassen und nun will er sich mit seiner Braut, Karoline, vergnügen. Er beschließt mit seinen vier Mark: Heut sauf ich mich an und dann häng ich mich auf.
Allerdings kommt es anders als erwartet. Karoline will sich auch amüsieren. Sie will sich in der Leichtigkeit des Augenblicks verlieren, die weder die Sorgen des Morgens kennt, noch die Verurteilungen des Gestern sieht. Vier Mark reichen dafür jedoch nicht aus. Denn Eis essen und Achterbahnfahren sind teure Angelegenheiten. Sie streitet sich mit Kasimir, da dieser ihr prophezeit, dass die Frau den Mann verlässt, wenn der Mann arbeitslos wird. Die Liebe habe dann nichts mehr zu sagen, sie ist wertlos, wenn der Mensch arbeitslos ist. Karoline wirft ihm daraufhin Selbstsucht und Egoismus vor und stellt sich auf den Standpunkt, dass die Liebe einer Frau vor allem in dem Moment aufblühe, wenn ihr Mann leide. Liebe habe nichts mit Geld zu tun, sondern, so aus Karolines romantischen Worten abzuleiten, mit Leid. Kasimir, getrimmt von Sorgen und Ängsten als abgebauter Mann, wirft ihrer Braut Phantasterei und Naivität vor. Karoline stellt als Antwort Kasimirs Liebe in Frage. Sie streiten sich. Der Konflikt tritt in die Stufe seiner Erfahrung. Ihre Wege trennen sich. Sie will die Sorgen, wenn auch für einen Augenblick vergessen; Er hingegen, durchaus auf die männlichen Kontakte seiner Braut eifersüchtig, will kämpfen, weiß aber nicht, wie. Die Exposition ist vollbracht. Die Determinismen sind gesetzt. Der Raum für Spontanität und Freiheit gestreut. Das Drama kann beginnen.
Die Ausgangsfrage, ob die Liebe der Arbeitslosigkeit standzuhalten vermag oder ob die ökonomische Krise der Produktionsverhältnisse unvermeidlich auf die intime Krise der Privatverhältnisse durchschlägt, spitzt sich zu. Im Hintergrund des Geschehens geht also ein Gespenst im Volksstück um, das Gespenst des Marxismus
Das Lebenszeichen des Klassenbewusstseins
Irgendwo schreibt Karl Marx, dass ein Arbeiter im Verhältnis zu seinem Kapitalisten selbstverständlich nicht diesem einen Kapitalisten, der die Arbeitskraft des Arbeiters wie eine Ware gegen Entgelt mietet, gehört und deswegen nicht von diesem einzelnen Kapitalisten abhängig sei. Er kann diesen einen Kapitalisten jederzeit verlassen. Darin unterscheide sich der Arbeiter geschichtlich vom Leibeigenen und darum sei der Arbeiter frei; er ist ein freier Arbeiter in der bürgerlichen Gesellschaft, d.h. frei sich einem Kapitalisten gegen Entgelt zu verdingen. Aber, fügt Marx hinzu, da die einzige Einkommensquelle des Arbeiters der Verkauf seiner Arbeitskraft ist, womit er seine Existenz begründet, mag er zwar den einzelnen Kapitalisten verlassen können, aber die Summe aller Kapitalisten, die Klasse der Kapitalisten, Brotgeber und Lohnherrn, kann er nicht verlassen, ohne gleichzeitig seine Existenz zu Grunde zu richten. Somit mag der Arbeiter, da er von dem Verkauf seiner Arbeitskraft lebt, mithin einen Käufer seiner Arbeitskraft braucht, einen Kapitalisten verlassen können, aber die Gesamtheit der Kapitalisten kann er niemals verlassen, ohne dabei zu verhungern. Der Arbeiter ist nicht abhängig von einem Kapitalisten, er ist abhängig von der ganzen Klasse der Kapitalisten und diese Tatsache wirft ihn auf seine eigene Klasse zurück. Dieser Widerspruch, der ein objektiver ist, wird in der Figur des Kasimir dramatisches Bewusstsein über soziales Sein.
Was zeigt uns das? Es zeigt, dass dieses Bewusstsein sich besonders in jener Zeitspanne aufdrängt, zwischen dem der Arbeiter seinen Arbeitsplatz verliert und einen neuen sucht, ohne bereits in das zermürbende Armutsapparat des Staates versunken zu sein. Denn im Armutsapparat beginnt die mentale Resignation und die Distanz zum Arbeitsklima, ggf. auch zu einer Arbeiterorganisation. Daraus folgt, dass das klassenmäßige Bewusstsein des Arbeiters ein Lebenszeichen von sich gibt, wenn er seine Arbeit verliert, wofür die Gesetze des Kapitals sorgen. Denn dann (sozusagen mit der Betriebsluft seiner frischen Entlassung) erfährt der Arbeiter offensichtlich, dass Arbeit vom Kapital unterdrückt wird, dass er total abhängig ist, dass die soziale Logik absolut vom Kapital bestimmt wird, dass der Kapitalprofit seinen realen Bedürfnissen gegenüber absolut feindlich entgegen tritt, dass er – gleich wie Kasimir – Statist seines eigenen Lebens ist. Aber Kasimir spielt dabei die bewusste Mimesis, die dem Zuschauer seine eigene Existenzbedingung aufzeigt.
Damit geht Kasimir und Karoline einen Schritt weiter und zieht weitere Schlüsse. An einer Stelle sagt Karoline, dass die allgemeine Krise und das Private nicht zusammen gehören. Schürzinger – der wie eine Referenztruhe funktioniert, ohne zu wissen, dass er eine ist – antwortet auf das „Fräulein“, dass sie fundamental irre und dass die allgemeine Krise und das Private „unheilvoll verknüpft“ sind. Sie sind so innig miteinander verschränkt, dass selbst das wohl in der Geschichte der schönen Künste beispiellos idealisierte Gefühl der Liebe ihre Wurzeln im Zustand der allgemeinen Wirtschaft und Politik hat. Auf Eruptionen im Allgemeinen folgen Eruptionen im Intimen. Damit enthüllt Horváth den idealistischen Kitt bürgerlicher Vorstellungen von Liebe, bis der Tod die Liebenden voneinander scheidet, wie es in der Trauungsformel heißt. Vielmehr sorgt das Elend kapitalistischer Verhältnisse dafür. Kälter, effizienter und skrupelloser als der Tod selbst scheidet es die Liebenden voneinander.
Mit diesem Gesichtspunkt lässt sich Ödön von Horváths Kommentar zu seinem Volksstück einordnen: „Es ist die Ballade vom arbeitslosen Chauffeur Kasimir und seiner Braut …, eine Ballade voll stiller Trauer, gemildert durch Humor, das heißt durch die alltägliche Erkenntnis: „Sterben müssen wir alle!““
Schließlich, und auch das will uns die Inszenierung sagen, ist der Mensch schlecht, „weil er schlecht leben muss. (…) Dass der Mensch schlecht ist, ist eine himmelschreiende Lüge.“ Nun rate man, welche Figur diesen Ausspruch in völligem Kontrast zu seinem Tun ausspricht? Genau, der Zuschneider Egon Schürzinger.
Der Realismus erfindet sich
Im aktuellen Spielzeitheft hat der Intendant des Stuttgarter Staatstheaters, Armin Petras, einen lesenswerten Artikel mit dem Titel „Wozu brauchen wir Realismus?“ geschrieben und schließt diesen Beitrag, dass der Realismus, den es heute zu erfinden gilt, vielleicht einmal „typische Charaktere in typischen Umständen“ zeigen wird, wie Friedrich Engels einst schrieb. Kasimir und Karoline sind typische Charaktere in typischen Umständen, die die typischen Katastrophen zu erleiden haben, die die typische Klassenherrschaft der typischen Mächtigen bewirkt.
Die Inszenierung von Stefan Pucher hat diesen Auftrag, klassenstrukturelle Typologie sichtbar zu machen, erfüllt. Mit dieser Aufführung zeichnet er sich als Realist aus, der neue Formen des Realismus erfindet. Mehr davon.