vonMesut Bayraktar 03.01.2018

Stil-Bruch

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Der Dreigroschenroman von Bertolt Brecht hat epischen Ausmaß. Jeder Progressive muss dieses Buch lesen. Es ist ein Lehrroman über die moderne Gesellschaft und ihre Mythen

Am 28. Februar 1933 verließ Bertolt Brecht Deutschland. Ein Tag zuvor brannte der Reichstag. Die wackelige Republik von Weimar wurde in Asche versetzt und sollte für immer Asche der Geschichte bleiben. Ab April 1933 stand Brecht auf der sogenannten „Schwarzen Liste“ von Wolfgang Herrmann. Infolgedessen wurden seine Werke am 10. Mai 1933 verbrannt und anschließend verboten. Es heißt, am 1. März 1933 – ein Tag, nachdem er das Land verlassen hatte – sollte Bertolt Brecht, dessen Arbeit ab 1930 durch die Nazis systematisch und gewaltsam sabotiert und gestört wurde, von der SA festgenommen werden. Dem kam Bertolt Brecht glücklicherweise zuvor, indem er ins Exil ging. Er sollte 15 Jahre lang ein Dasein als Flüchtling fristen. In dieser Zeit hat der brillanter Dialektiker unnachgiebig gegen die Gräuel der kapitalistischen und faschistischen Barbarei, dessen Verwobenheit er als die Prügel gegen Menschen zum Unmenschen erkannte, gekämpft: mit Kunst und Theorie.

Dreigroschenoper als Prolog des Dreigroschenromans

Jeder halbwegs mit dem Theater vertraute Leser kennt die weltberühmte Dreigroschenoper Brechts, die ihn seinerzeit Größe und Bekanntheit verlieh und die noch heute fulminante Inszenierungen auf den Theaterbühnen der Welt erfährt. Das acht Jahre später erschienene, vorliegende Meisterwerk, das seinerzeit als Brechts Hauptwerk und Kompendium von homerischem Ausmaß ausgezeichnet wurde, aber heute überraschenderweise wenige kennen oder gar gelesen haben, ist aus dem dramatischen Stoff entwachsen. Die Dreigroschenoper ist inhaltlich der Prolog des Dreigroschenromans, das ans Ende des Dramas anknüpfend ein epochales und originelles Kulturwerk epischen Ausmaßes schafft und heute noch mit großer Frische und geistiger Lebendigkeit auch ins 21. Jahrhundert strahlt. Es ist ein Roman über die anarchische Kultur der modernen bürgerlichen Gesellschaft von Warenproduzenten. Es ist die erste große Arbeit und der erste Roman Bertolt Brechts. Stilistisch und strukturell steht der viele Jahre später verfasste, leider jedoch Fragment gebliebene Roman Die Geschäfte des Herrn Julius Cäsar auf derselben Linie. Die Originalität, wie Brecht komplexe Stoffe künstlerisch in ein Roman – oder vielmehr in eine Dialektik als Roman – verarbeitet und dadurch einen permanenten organischen Umschichtungsprozess herstellt, besticht in beiden Werken. Das weite Realismusverständnis, für das sich Brecht einsetzte, verwandelt sich dadurch von präziser Theorie zur präziser Realitätsforschung vermittelst künstlerischer Spiegelungen, die in einer Mobilisierung von Bewusstsein durch Selbstverständigung desselben mit der Welt münden: Pädagogik durch Kunst, Kunst als Pädagogik. Schon Leo Tolstoi – ebenfalls ein Meister des Realismus – sagte, dass jede Kunst nutzlos sei, die nicht auf die Veränderung des Menschen abziele. Bertolt Brecht hätte dieses Imperativ unterschrieben. Literarischer Realismus, ‚als die Sache betreffend‘, ist im Grunde genommen der einzig progressive und revolutionäre Narrativ von Kunst für die Welt

Der Dreigroschenroman ist 1934 im dänischen Exil entstanden. Deutschsprachige Theaterbühnen wurden ihm nach und nach versperrt. Die aus solchen stummen Zwängen der Zeit folgende Überlegung Bertolt Brechts, der zurecht primär als Dramatiker und Dichter verstanden wird, war folgerichtig, dass er, um wirken zu können, sich verstärkt zur Prosa wenden müsse, was er auch tat. Denn daraus entstand die vorliegende, epische Prosa. Dennoch wird der Leser die dramatische Schärfe und Kühnheit, die aus den Theaterstücken Brechts bekannt sind, auch im vorliegenden Werk wieder erkennen, was dazu führt, dass der Dreigroschenroman – darin beispiellos originell – eine Art dynamische Vermischung der Gattungen (Roman, Satire, Drama, Krimi) ist, die alle traditionellen Gesetze des Romans überwirft, nicht Leere durch einseitige Destruktion hinterlässt, sondern geordnete Fülle durch dialektische Progression sichtbar macht – oder wie Walter Benjamin zum vorliegenden Werk schrieb: Brecht entkleidet die Verhältnisse, unter denen wir leben, ihrer Drapierung durch Rechtsbegriffe. Nackt wie es auf die Nachwelt gelangen wird, tritt das Menschliche aus ihnen heraus. Und dabei beweist Brecht Witz und Humor – allerdings Humor im tiefsten, fast schon aristophanischen Sinn des Wortes: dem affizierten Lachen über die Fiktion folgt ein schockierendes Nachdenken über die Wirklichkeit.

Mythenbildung in der Anarchie der Warenproduktion

Der Dreigroschenroman ist nachwievor von unglaublicher Aktualität. Darin durchleuchtet Brecht mit geschichtlicher Rücksichtslosigkeit die Verhältnisse der Menschen zueinander im kapitalistischen Zeitalter der Anarchie der Warenproduktion, besser: Die Kultur des Kapitalismus, die zugleich als Zerstörungs- wie Wunderwerk alle Bereiche der Gesellschaft seiner Diktatur unterwirft. Der ständige Formwandel, den die Hauptfiguren wie Peachum (Der aufsteigende Bettlerkönig, der das Mitleid der Bourgeoisie zum Gewerbe auf Kosten der Elenden macht), Macheath (Das aufsteigende Messer, dass das verbrecherische Präludium einer herrschenden Klasse von Kapitalisten darstellt) oder Fewkoombay (Der absteigende invalide Veteran, der die sozialen Ursachen seiner individuellen Misere nicht erkennt) und viele mehr durchlaufen, erzeugt etwas Thrillerhaftes. Allerdings zeigt dieser Formwandel – wie er ebenso unter verschiedenen Formen in der Wirklichkeit stattfindet -, wie die kapitalistische Kultur permanent Mythen und Legenden bei gleichbleibenden Unterdrückungsparametern konstruiert und konserviert, die die Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse pausenlos ideologisch kaschieren, d.h. den unzähligen Opfern Sand ins Auge werfen, der Vernichtung des Humanen das Inhumane des Fetisch aufstülpen. Dieser dynamische Mechanismus, der in der tiefen Verschiebung der materiellen Produktionsverhältnisse infolge der rumorenden Produktivkräfte erzeugt wird, der gesellschaftliche und natürliche Grundlagen menschlicher Existenz durch die dem Kapitalismus inhärenten Widersprüche zerstört und sich dann aber den Menschen in ihrem rechtlichen, künstlerischen, philosophischen usw. Bewusstsein als legitim und natürlich widerspiegelt, also im weitesten Sinn: in der Kultur erscheint, eben diesen dynamischen Mechanismus markiert Brecht taktvoll im Dreigroschenroman. Er zeichnet den determinierenden Einfluss von produktiven Verschiebungen bei gleichbleibenden Parametern nach und kompromittiert sodann mit gezielten Einschüben die Apologie der kapitalistischen Kultivierung. Die auftretende Figur wirkt plötzlich nicht autonom und unmittelbar, sondern heteronom, entrückt und hypothetisch, d.h. von seiner Rolle verfremdet. Solche Einschübe spalten die betroffene Figur, ohne dass sie es merkt. Sie denkt, dass sie denkt, ohne selbst zu denken. Sie denkt, für sich zu sprechen, ohne für sich zu sprechen. Hinter ihr steht jemand. Der kulturelle Legitimationsmechanismus eines materiellen, profanen Zerstörungswerkes erleidet mit der Rückführung seiner Resultate auf die materiellen, profanen Begebenheiten eine kulturelle Delegitimation. Die durch das Kapital versachlichten Gesellschaftsverhältnisse werden zu gesellschaftlichen Verhältnissen des Kapitals entsachlicht. Brecht tritt als radikaler Häretiker auf.

Zwei Beispiele, in denen die Kultur des Kapitals enthüllt wird

Ein Beispiel, indem ein Kapitalist ausführt: Die Konkurrenz, mein Herr! Darauf beruht unsere Zivilisation, wenn Sie es noch nicht wissen sollten! Die Auswahl der Tüchtigsten! Die Auslese der Überragenden! Wie sollen sie überragen, wenn es niemanden gäbe, den sie überragen können? Die ganze Entwicklung der Lebewesen dieses Planeten können wir uns nur so vorstellen, daß es Konkurrenz gibt. Woher sonst überhaupt eine Entwicklung? Sie haben Hunger! Das ist alles? Unverschämtheit! Solche gibt es doch Tausende! Da wird doch ganz anderes geboten. Sie sind unglücklich. Nun, Sie leiden unter dem Unglück der Unglücklicheren. Das macht Sie konkurrenzunfähig. Das ist nichts als Bequemlichkeit, Schlechtrassigkeit und Renitenz! In Wirklichkeit sind Sie ein Schädling! Ohne daß es für Sie gut ist, schaden Sie, einfach durch Ihre Existenz, allen Anderen, Leistungsfähigeren, Elenderen! Was, sagt man, soviele Unglückliche? Wie soll man da helfen? Wo soll man anfangen? Das ist klar: je mehr Unglück es gibt, desto weniger braucht man sich damit abzugeben. Es ist ja fast schon allgemein! Der Naturzustand! Die Welt ist eben unglücklich, so wie der Baum grün ist! Weg mit Ihnen!

Oder ein anderer Einschub, in dem Macheath dem Bandenmitglied Grooch seine neu gewonnen Geschäftsmethoden vorträgt, die besonders vorteilhaft im Verhältnis zum Gangstertum sind: Grooch, Sie sind ein alter Einbrecher. Ihr Beruf ist Einbrechen. Ich denke nicht daran, zu sagen, daß er seinem inneren Wesen nach veraltet wäre. Das wäre zu weit gegangen. Nur der Form nach, Grooch, ist er zurückgeblieben. Sie sind kleiner Handwerker, damit ist alles gesagt. Das ist ein untergehender Stand, das werden Sie mir nicht bestreiten. Was ist ein Dietrich gegen eine Aktie? Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank? Was ist die Ermordung eines Mannes gegen die Anstellung eines Mannes? Sehen Sie, noch vor ein paar Jahren haben wir eine ganze Straße gestohlen, sie bestand aus Holzwürfeln, wir haben sie ausgestochen, aufgeladen und weggeführt. Wir meinten wunder, was wir geleistet hatten. In Wirklichkeit hatten wir uns unnötige Arbeit gemacht und uns in Gefahr begeben. Kurz darauf hörte ich, daß man sich nur als Stadtrat etwas um die Auftragsverteilung kümmern muß. Dann bekommt man eine solche Straße in Auftrag und hat mit dem Verdienst dabei, für eine zeitlang ausgesorgt, ohne etwas riskiert zu haben. Ein anderes Mal verkaufte ich ein Haus, das mir nicht gehörte; es stand gerade leer. Ich brachte ein Schild an: Zu verkaufen, Erkundigungen bei XX. Das war ich. Kinkerlitzchen! Wirkliche Unmoral, nämlich unnötige Bevorzugung ungesetzlicher Wege und Mittel! Man braucht doch nur mit irgendwelchem Geld eine Serie baufälliger Einfamilienhäuser aufzurichten, sie auf Abzahlung zu verkaufen und zu warten, bis den Käufern das Geld ausgeht! Dann hat man die Häuser doch auch, und das kann man mehrere Male machen. Und ohne daß es die Polizei etwas angeht! Nehmen Sie jetzt unser Geschäft: wir brechen bei Nacht und Nebel ein und holen uns aus den Läden die Waren, die wir verkaufen wollen. Wozu? Wenn die Läden verkrachen, weil sie zu teuer arbeiten, können wir doch die Ware auch so haben durch einfachen, gesetzlichen Kauf zu einem Preis, der noch unter den Spesen eines Einbruchs liegt! Und wir haben, wenn Sie darauf Wert legen sollten, dann ebenso gestohlen, wie bei einem Einbruch; denn was in den verkrachten Läden an Waren lagerte, war ja auch schon den Leuten weggenommen, die sie gemacht hatten und denen man gesagt hatte: Arbeitskraft oder Leben! Man muß legal arbeiten. Es ist ebenso guter Sport! Man benutzt heute friedlichere Methoden. Die grobe Gewalt hat ausgespielt. Man schickt, wie gesagt, keine Mörder mehr aus, wenn man den Gerichtsvollzieher schicken kann. Wir müssen aufbauen, nicht niederreißen, das heißt, wir müssen beim Aufbauen den Schnitt machen.

Ein Lehrroman über die bürgerliche Gesellschaft

Solche Passagen unterhalten ungemein und lassen ebenso zu denken übrig. Dieses Buch muss jeder Progressive, besser: jeder Aktivist, Denker, bewusster Arbeiter, Betriebsrat, Gewerkschafter und linker Politiker lesen, wenn noch nicht geschehen. Denn der Roman ist ein Lehrroman über die moderne Gesellschaft, die heute freilich andere, fortgebildete Formen angenommen hat, aber im Inhalt und in Tiefenstruktur dieselbe wie zu Zeiten Brechts ist. Gerade heute ist das Buch außerordentlich erhellend, wo durch Lügen und politischem Kalkül die Betrogenen gegen die Betrogenen gehetzt werden. Spinoza sagte mal trefflich, und das noch vor Hegel und Marx: Die menschliche Freiheit besteht lediglich darin, dass sich die Menschen ihres Wollens bewusst und der Ursachen, von denen sie bestimmt werden, unbewusst sind. – derart unbewusst, dass diese Ursachen, die von ihnen ausgehen, wie eine blinde Gewalt, wie eine Bestimmung, wie ein sog. Schicksal die Geschicke der Einzelnen zu bestimmen scheinen. Brecht erhellt diese Unbewusstheit über die Ursachen menschlichen Wollens, schiebt sie ins Bewusstsein und befreit dadurch die Willensfreiheit von ihrer eigenen Unzulänglichkeit, worin im Übrigen die bürgerliche Lüge ruht. Er sucht die Ursachen nicht im Willen, nicht in einer phantasmagorischen Innerlichkeit, wo Jahrhunderte hinweg Denker und Philosophen vergeblich suchten. Er sucht sie im Verhältnis des Menschen zum Menschen, da die Menschen fortlaufend das Produkt ihrer (nicht – nur – im warenförmigen Sinn!) Produkte sind.

Wieder Walter Benjamin

Wenn man danach fragt, wer diese Ursachen erkannt hat oder wer – wie oben geschildert – in den Einschüben hinter den Figuren steht, die denken, dass sie denken, ohne selbst zu denken, kann man wieder ein Blick auf Walter Benjamin werfen, der in seiner Rezension ausführte: Aber Marx, der es zuerst unternahm, die Verhältnisse zwischen Menschen aus ihrer Erniedrigung und Verneblung in der kapitalistischen Wirtschaft wieder ans Licht der Kritik zu ziehen, ist damit ein Lehrer der Satire geworden, der nicht weit davon entfernt war, ein Meister in ihr zu sein. In seine Schule ist Brecht gegangen. Die Satire, die immer eine materialistische Kunst war, ist bei ihm nun auch eine dialektische. Marx steht im Hintergrund seines Romans – ungefähr so wie Konfuzius und Zoroaster für die Mandarine und Schahs, die in den Satiren der Aufklärung unter den Franzosen sich umsehen. Marx bestimmt hier die Weite des Abstandes, den der große Schriftsteller überhaupt, besonders aber der große Satiriker seinem Objekt gegenüber einnimmt. Es war immer dieser Abstand, den die Nachwelt sich zu eigen gemacht hat, wenn sie einen Schriftsteller klassisch nannte. Vermutlich wird sie sich im Dreigroschenroman ziemlich leicht zurechtfinden.

Friedrich Dürrenmatt (1921-1990) bezeichnete Bertolt Brecht als den größten Dramatiker unserer Zeit. Im 21. Jahrhundert müssen wir rückblickend ergänzen: Bertolt Brecht ist der größte Dramatiker des 20. Jahrhunderts, der sich auch im Prosaischen brillant auszudrücken wusste. Wir können von ihm lernen.

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Titelbild: http://www.blog-der-republik.de/wiedergelesen-bert-brechts-dreigroschenroman/

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