Das vorliegende Essay wurde am 08.09.2018 in der Wochenendausgabe des Neues Deutschland (nd) abgedruckt – Über Macht, soziale Gewalt und zwei Mädchen im Theater.
1. Immer wenn ich an den Körper meines Vaters denke, kommt mir bis heute zuerst sein Geruch in den Sinn. Dieser Geruch ist ölig, es ist der Geruch der Fabriken und Maschinen, ein Geruch, der sich wie eine zweite Haut auf den Körper meines Vaters legte, als ich ihn nach seiner Nachtschicht in der kleinen Küche bei Morgendämmerung begrüßte. Erschöpft saß er da und in seinen Ohren hallte noch die Kriegsmusik des Kapitals nach, die die Maschinen dirigierte. Indessen zwangen die Maschinen seinen und viele andere Körper zu Choreographien der Verwertung. Er hatte die Haare, obwohl er sich schlafen legen würde, zum Seitenscheitel gekämmt (vermutlich um den Schein der Würde zu bewahren, der die Demütigungen im Produktionsprozess verdecken sollte). Dabei rauchte er die letzte Zigarette, heimlich, auch wenn meine Mutter, die Tabakqualm nicht mochte, natürlich davon wusste. Sie hielt jedoch still. Diesen Regelverstoß gestand sie meinem Vater zu; eine Gefälligkeit. Was sollte sie auch sonst tun – im Schlafzimmer sah sie die Spuren der unerbittlichen Härte, mit der das Wertgesetz den Körper meines Vaters kaputtschlägt. Warum ich meinen Vater in der Morgendämmerung sah? Ich kam von Orten, wo das falsche Glück verkauft wird: Partys.
2. Den Körper meines Vaters habe ich noch nie nackt gesehen; erst recht nicht nackt und in Bewegung. Dabei würden seine Gesten, mit denen der Körper Raum und Zeit wird, offener vorscheinen. Die Sprache der sozialen Klassengewalt wäre in ihren reinen Formen sichtbar. Denn Gesten sind Ausdrucksweisen von Körpern und in ihnen inkarniert sich gleichsam die Klassengewalt. Muskeln, Nerven, Knochen, um die sich Haut spannt, werden besetzt durch diese Gewalt. Sie bemächtigt sich der Kräfte, die in den Körpern quellen, um Kräfte für sich freizusetzen. Muskeln, Nerven, Knochen usw. sind die Organe, durch die die Gewalt ihre Herrschaft zementiert. Die Gewalt macht sie zu ihren eigenen Organen. Nur weil die Menschen das einzige Tier sind, das permanent auf zwei Beinen steht und geht, heißt das nicht, dass alle Menschen in gleicher Weise stehen und gehen. Der Ort in der Gesellschaft bestimmt die Codes der Körper, an die einer sich halten muss, um bemerkbar zu sein. Sonst ist man verloren.
3. Die Bürgerlichen unterscheiden sich von meinem Vater nicht, weil sie ein anderes Selbstbewusstsein von ihren Körpern haben. Der Unterschied liegt darin, dass sie ein Selbstbewusstsein von ihren Körpern haben. Sie gehen bewusst mit ihren Köpern um. Für meinen Vater ist sein Körper etwas Fremdes, etwas Anderes, ihm nicht Zugehöriges. Sein Körper ist für ihn ein Arbeitsinstrument, ein Werkzeug, ein Hammer, der in der Warenproduktion zum Einsatz kommt, um Metall eine Form zu geben, oder bloß Arm, um Kranke auf dem Krankenbett zu wenden. Sein Körper erscheint seinem Selbst als eine Ware; eine, die wie alle anderen Waren auch gekauft wird, um sie zu ge- und verbrauchen. Ebenso wie alle anderen Waren, hat auch sein Körper einen Preis: Arbeitslohn. Wenn der Körper eine Vielheit mit einem Sinn ist, dann wird dem Körper meines Vaters nur der eine Sinn eingeschrieben: durch den Verbrauch seiner Kräfte die Gesetze des Profitimperativs zu vollstrecken. Dabei lagert sich die Gewalt des Produktionsvorgangs, die hier ihren Ausgang nimmt, in seinem Körper in Form von Frust, Unlust, Stress, Schmerzen, ja auch Hass ab.
Die Bürgerlichen hingegen verhalten sich zu ihren Körpern als Tempel, in denen die Vernunft der Ausbeutung wohnt. Gezielt kultivieren sie ihre Körper mit blumigen Düften, mit glänzendem Schmuck, mit seidener Kleidung oder gründlicher Hygiene. Fingernägel und perlende Zähne sind Urkunden solcher Hygiene. Auch ihre Sinne kultivieren sie; das Gehör mit der Orchestermusik, das Auge mit dem Gemälde, den Geschmack mit kulinarischem Essen, die Nase mit Parfüm, die Haptik mit Medientechnologie. Die Bürgerlichen dressieren ihren Körper nicht, wie man Pferde, Vieh oder Nutztiere dressiert – mit Gewalt. Sie beherrschen, indem sie über die Körper anderer herrschen, sich selbst. Sie sind Nutznießer dressierter Körper. Der Index ihrer Gesten verrät ihre beeindruckende Selbstbeherrschung, die sich bis in die verzweigten und verborgensten Nervenpunkte festsetzt. Dressierte Körper hingegen vermögen zwar im Produktionsprozess die von innen hilfeschreienden Impulse zu beherrschen; deswegen sind sie ja dressiert. Aber außerhalb, bei der Familie oder bei Freunden, Bekannten oder der Öffentlichkeit, wird jede Impulsbeherrschung unmöglich. Der Geist bleibt ohnmächtig. Impulse entladen sich als Nebenprodukt der Klassengewalt in Form von Gewalt gegen sich und ihresgleichen. Die Impulse schlagen sich durch Körper und Geist. Sie sind die unausweichliche Mimesis der sozialen Gewalt im beschädigten Leben. Der Bürgerliche genießt seinen Körper. Der Arbeiter sucht ihn zu vergessen – oder er verletzt ihn mit Tinte und stählt ihn mit Hanteln, um auf die Annexion seines Körpers mit Fahnen seines Selbst zu reagieren, die sein Klassenschicksal, das Gravitationsgesetz seiner Scham, vor dem Blick anderer überzeichnen sollen.
4. Die Körper der feinen Leute lassen sich mit einem Begriff charakterisieren: Eleganz. Wenn Eleganz die Effizienz des Körpers im Raum ist, mit minimalstem Kraftaufwand höchstmögliche Wirkung zu erzielen, dann bewegt sich der Körper meines Vaters wie ein Elefant im Wasser. Sein Gang, seine Sitzhaltung, die ungeschickte Art, das Besteck zu halten und das Essen auf dem Teller wahllos zu vermengen, da es »sowieso in den Magen geht«, oder den Bildschirm seines Handys mit durch Arbeit geschwollenen Fingern zu bedienen, alle Gesten außerhalb der Verwertung seines Körpers durch das Kapital – sind grob. Nicht weil er grob ist, sondern weil die Mechanismen seines Körpers ihm vergröbert hinterlassen werden. So macht sich das Kapital Körper für seinen Selbstzweck nutzbar.
Ich kenne die Gesichter der feinen Leute; ich studiere sie, habe sie schon immer studiert, musste sie studieren, seit ich zu denken begann, weil sie die Sieger sind – die Herrscher. In ihren Gesichtern ist etwas, was mich schon immer faszinierte. Lange wusste ich nicht, was es ist. Nun denke ich zu wissen, was ihren Gesichtern anhaftet. Ihre Gesichter sind chirurgisch. Sie zeugen nicht von Arbeit, sie sind Zeugnisse von Intelligenz, die arbeiten lässt. Die reine, zarte Haut, die grazilen Linien, die schneeweißen, lückenlosen Zähne, das unaufdringliche Lachen, die gepflegten, seriösen Frisuren, die zivilisierten Lippenbewegungen, die stechenden, schönheitsehenden Augen und die befehlenden Blicke – Blicke, die es gewohnt sind, bedient zu werden. Jedes Element in ihrem Gesicht ist ein Teil vom Ensemble ihrer Selbstermächtigung. Die Gesichter der feinen Leute, vor allem die Augenbrauen, sind der ausschlaggebende Grund für die Scham, die meinesgleichen innerlich blockiert. Die Wundmale des Unterdrückten trägt nicht er, sondern sein Unterdrücker im Gesicht.
5. Zwei blonde Mädchen, Geschwister, vielleicht fünf und sieben Jahre alt, hinter ihnen die Mutter, daneben die Großmutter, im Foyer eines Staatstheaters. Ich sehe, wie die Jüngere der beiden das Spielzeitheft aus dem Fach einer Pyramide für Prospekte zieht. Völlig verwundert beobachte ich, mit welcher Ruhe und inneren Geduld die Jüngere das Heft aufschlägt, Seite für Seite, und ihre blauen Augen wie eine gekonnte Romanleserin über Schriftzüge und Bilder segeln lässt. Dabei kann sie doch nicht einmal lesen, denke ich, und die gekonnten Augenbewegungen sind bestimmt eine Nachahmung dessen, wie sie zu Hause des Öfteren ihre Mutter lesen sah. Die Ältere stellt sich zu ihrer Schwester, guckt über die kleine Schulter der Jüngeren hinweg und zeigt hier und da mit dem Finger auf die Seiten; möglicherweise um ihre Überlegenheit zur Geltung zu bringen, da sie schon lesen kann, oder bloß aus angelernter Neugier wie ihre kleine Schwester. Die Jüngere blättert weiter. Ihr Körper steht aufrecht wie ein Stock. Die Neigung ihres Kopfes, der mit berechneter Selbstkontrolle an ihrem zierlichen Nacken bricht, offenbart höchste Konzentration. Sie legt ihr ganzes Bewusstsein in das Heft.
Irgendwann wirft die Großmutter einen gerührten Blick auf ihre Enkeltochter, der umschlägt in einen beglückten. Sie ist stolz auf diese zwei engelsgleichen Wesen. Vielleicht sah sie auch nur ihre eigene Kindheit in ihnen widergespiegelt, wie sie einst als Fünfjährige im Foyer eines Staatstheater das Programmheft aufschlug, während ihr Großvater hinter ihr stand und mit ihrem Vater sprach. Für einen Augenblick wird sie von den Toten ergriffen. Dabei entpuppt sich die Suche nach der verlorenen Zeit als Zeitlosigkeit des Sieges ihrer Klasse – der Reproduktion.
6. Was mich am Anblick dieser Mädchen schockierte, obwohl ich sie beneidet habe – ihr totalitärer Vorsprung zu Arbeiterkindern, zu meinem Vater, zu mir. Angenommen ich hätte mich mit meinen Eltern mit fünf Jahren im Foyer eines Staatstheaters befunden, was mehr als eine Hypothese, vielmehr eine Gedankenverwirrung ist, den mir der Schock nachbereitet. Ich hätte dort mit meinem Bruder rumgeturnt, wäre rumgelaufen, hätte die Gäste mit Lärm belästigt und die Einführung des Dramaturgen gestört, ohne Kenntnis davon zu nehmen. Ich hätte mich mit meinem Bruder gerauft, hätte mit den Prospekten, sollte ich nach ihnen greifen, um mich geworfen, da ich sie ohnehin nicht hätte lesen können und nicht so hätte tun können, als würde ich sie lesen, da zu Hause niemand las. Ich hätte, um es in meinen Worten zu sagen, nur Scheiße gebaut. Warum? Weil mein Körper ein Becken voller Ungeduld, Unruhe, Rastlosigkeit war, ein Körper, der sich permanent in seiner Willkür erbrach und nicht durch meinen Geist zahm gemacht werden konnte, da der Geist selbst dem Urchaos des Körpers und der Anarchie seiner Gesten ausgeliefert war. Ich hatte nicht das Vermögen, Aufmerksamkeit nur für eine Sache aufzubringen.
In diesen zwei Mädchen aber, die die körperliche Athletik der Selbstbeherrschung von Bürgerlichen widerspiegelten, wurde mir deutlich, dass das, wozu sie bereits mit fünf oder sieben Jahren fähig waren, ein Kind von Arbeitern erst mit achtzehn, neunzehn, zwanzig Jahren oder später imstande sein wird – wenn es Glück im Leben hat. Sonst wird es das nie. Was meine Eltern in diesem Szenario betrifft – sie wären weder gerührt noch beglückt. Durch ihre Körper ginge ein elektrischer Schlag. Sie würden zittern. Sie wären Opfer sozialer Scham, weil die Klasse, aus der sie herkommen, die besiegte ist.
*Titelbild unter Einverständnis der Illustratorin Jennifer Vanessa Lehmann