In der Tri-Bühne Stuttgart hat das Katona József Theater (Budapest) unter der Regie von Máté Hegymegi die »Blechtrommel« von Günter Grass aufgeführt. Zweifellos ist die Inszenierung bisher ein Höhepunkt des 14. SETT-Festivals.
Die Bühne liegt in weißen Tüchern, wie altes Mobiliar in unbewohnten Wohnungen, das darauf wartet, von einem ahnungslosen Erben enthüllt zu werden. Sobald die Lichter angehen, bemerkt man, dass sämtliche Tücher sich an der Hüfte einer alten Frau zentrieren: Es ist die Großmutter von Oskar. Plötzlich springt Oskars Großvater auf die Bühne und findet auf der Flucht vor der uniformierten Staatsgewalt Schutz unter den „vier Röcken“ der Großmutter. Danach entschlüpft an einem „verregneten Tag im Oktober 1899“ Oskars Mutter Agnes aus dem Rock. Sie wird auf einem Feld geboren. Nach und nach zieht die Großmutter ihren Rock weiter zu sich. Aus den weißen Tüchern gehen Möbel der Danziger Wohnung und weitere Verwandte von Oskar hervor. Schließlich betritt ein stämmiger Mann mit Hosenträgern die Bühne, der sich als die Personifikation der Blechtrommel entpuppen und zugleich der Erzähler der fantastischen Dramatisierung durch Csaba Mikó des berühmten Romans sein wird. Endlich verschwinden die weißen Tücher, die „vier Röcke der Großmutter“, unter denen Oskar den Sommer und den Duft der Heimat roch. Wir befinden uns in der nordpolnischen Hafenstadt der 1920er Jahre, Danzig. Die Geschichte wird gelüftet.
Die Blechtrommel ist Anti-Hegelianer
Im Rahmen des 14. Stuttgarter Europa Theater Treffen hat das Ensemble des Katona József Theater (Budapest) unter der Regie von Máté Hegymegi die »Blechtrommel« von Günter Grass in Stuttgart aufgeführt. Die Aufführung trug den Untertitel „Eine Reflektion über faschistoide Zeiten, Teil 1“, was bereits einen Gegenwartsbezug erkennen lässt, ist doch die Erzählung rund um Oskar eine in faschistischen Zeiten. Zweifellos ist die Inszenierung bisher ein Höhepunkt des Festivals.
Mit drei Jahren entscheidet sich Oskar, von den Kellertreppen zu stürzen, damit er nicht mehr wächst. Sein Körper bleibt der eines Kindes, während er sich emotional und geistig weiterentwickelt. Dabei erlebt er in der Mitte seiner Familie, in der Opportunismus und Intrigen Hand in Hand gehen, die Zerrissenheit seiner Geburtsstadt Danzig, die seit ihrer Gründung von den Mächtigen als Kriegsausbeute gehandelt wird. Schließlich ist er Zeuge des am 1. September 1939 begonnen Blitzkriegs der Nazis. In Danzig wird mit der Beschießung der Westerplatte durch das Kriegsschiff »Schleswig-Holstein« der Totalitarismus faschistischer Barbarei in Europa eingeleitet. Der zweite Weltkrieg beginnt. In diesen sechs Jahren behält Oskar seine Blechtrommel bei sich, in dem sich sein trotziges „Nein“ zur Geschichte als Geschichte seines Protests verdichtet, um sich mit Kriegsende von der Blechtrommel zu trennen.
Auf Protest folgt Verantwortung.
Schwerpunkt der Dramatisierung ist vor allem die Zeit der Nazibesetzung. Anders allerdings als im Roman wurde in der Inszenierung von Máté Hegymegi der Held dupliziert: einmal haben wir den handelnden Oskar und einmal den erzählenden Oskar, wobei, und darin der geniale Kniff der Regie, dieser zugleich als Blechtrommel für den handelnden Oskar fungiert. So ist in der Inszenierung tatsächlich die Blechtrommel der Erzähler, der immer wieder das Geschehen anhält und mit Kommentaren begleitet. Das, was Günter Grass im Roman symbolisch nahelegt, wird auf der Bühne physisch verwirklicht: die Blechtrommel spricht für Oskar, nicht Oskar durch die Blechtrommel, indem er mit seinen Schlägen dumpfe Töne erzeugt. Die Töne hören auf, dumpf zu verhallen. Sie werden Sprache. So wird deutlich, was im Roman verdeckt bleibt: die Blechtrommel – Protest Oskars gegen die Welt der Erwachsenen – ist die unbestimmte Negation gegen den Lauf der Geschichte. Mit anderen Worten, sie ist das Urteil der naiv-idealistischen Moral eines Kindes über die Amoralität der Geschichte. Damit wird die Hegelsche Deutung der Weltgeschichte umgewertet in einen Rückschritt im Bewusstsein der Freiheit. Die Blechtrommel ist Anti-Hegelianer. Von dieser Perspektive des Romans ist die Aufführung nicht gewichen. Das hat ihr aber nichts genommen. Vielmehr hat sie andere Vorzüge hervorgekehrt. Sie hat gezeigt, dass das Spezifische des Theaters die Vereinigung aller Kunstgattungen ist – die totale Synthese des Ästhetischen.
Im Theater ist Welt erfahrbar
Die Aufführung war realistisches Theater auf hohem Niveau, sofern unter Realismus die sichtbarmachende Darstellung von Welt verstanden wird. Die Welt zweier Weltkriege wurde in der Mannigfaltigkeit von Widerspruchsverhältnissen entfaltet – allmählich, aber konsequent. Insofern hatte die Aufführung Momente des Klassischen aufgenommen. Sie hatte epische Dramatik. Diesem Anspruch wurden die Schauspieler gerecht. Sie waren einem permanenten Wechsel von Facetten ausgesetzt, den sie facettenreich bemeistert haben. Schlag auf Schlag schalteten die Künstler im Tempo von Tischtennisspielern in einer Weltmeisterschaft um. Sie haben, nicht als Einzelne, sondern als Ensemble, die Bühne zum Kraftfeld der Historie verwandelt. Gesellschaftliche Kräfte wurden mit Gedanken greifbar. Die Situierung der Charaktere war im Weltzustand lokalisierbar. Die Charaktere kamen handelnd in der eindrucksvollen Körperlichkeit der Schauspieler zur Erscheinung. Zum Psychologisieren war wenig Platz, sodass die Psyche der Charaktere umso deutlicher vorschien. Das war Spielfreude in Aktion, die ansteckt, weil die Würde der Charaktere antastbar war. Das Spiel war durchdrungen von Wahrscheinlichkeit und Wirklichkeit, von Erkenntlichkeit und Sinnlichkeit, von Faktischem und Verfremdetem, von Gestus und Poesie, von Lachen und Trauern, kurz: von Kunst. Allein dafür haben die Freunde aus Ungarn großen Applaus verdient.
Umrahmt wurde die Lebendigkeit des Spiels von einem raffinierten Bühnenbild (Anna Fekete), das x-bödig war. Ständig überraschte es mit neuen Winkeln und Gesichtspunkten. Es erinnerte an ein Adventskalender, in dem man Fenster an Stellen entdeckt, an denen zunächst keine Auffälligkeit zu erkennen ist. So verwandelte sich die Bühne mit wenig Details und großer Kreativität von einem Landstrich in eine Wohnung, von einer Wohnung in ein Altar oder in eine Schiffskabine. Selten sieht man im Theater eine Vielfältigkeit des einheitlichen Spielraums trotz Fehlen einer Drehbühne etc. und selten geht dies mit einer gleichzeitigen Totalausnutzung der Bühne einher. Das gesamte Team hat hervorragende Arbeit geleistet, die die deutsche Theaterlandschaft, die sich u.a. in den Universalskeptizismus der Postmoderne verrennt, herausfordert. Kunst kann ein Mittel der Erziehung werden und Vergnügen muss der Zweck der Kunst sein. Im Theater ist Welt erfahrbar, nicht als Relatives, sondern als Historisches.
Die Aufführung ist wichtig, sowohl für Ungarn, wo neuerdings Obdachlose kriminalisiert werden, als auch für Europa, wo Rechte eine diskursive Hegemonie entfalten. In gewisser Hinsicht ist nämlich jede Theateraufführung eine Nachricht über eine Haltung zur Welt. Die Nachricht der Inszenierung aus Budapest ist in Stuttgart angekommen. Sie ist eine ernstzunehmende Nachricht. Man kann hoffen, dass sie in Europa ankommt. Sie lautet: Öffnet die Fenster der Geschichte.
Titelbild unter Einverständnis der Leiterin Edith Körber von Theater Tri-Bühne