vonMesut Bayraktar 23.12.2018

Stil-Bruch

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»Sich verlieren« ist ein glänzender Einstieg in die literarische Brillanz von Annie Ernaux, die den sozialen Text, der der Welt eingeschrieben ist, im Schmelztiegel des Ichs lesbar macht

Seit einigen Jahren erregen zwei französische Schriftsteller in Europa Aufsehen um sich. Ihr Stil zeichnet sich durch nüchterne Drastik aus, die Allzumenschliches berechnend sprengt. Ihr Stil ist der eines Pyrotechnikers, der Abschaffenswertes abschafft. Ihr Verfahren ist selbstbezüglich. Einer der beiden präzisiert dieses Verfahren in Anlehnung an den Lehrer Pierre Bourdieu. Er sagt, eine Autosozialanalyse ist etwas Anderes als eine Autobiografie. Das ist richtig. Das Erste geht auf die Suche nach sozialen Wahrheiten, die sich als Mahnmale der Subjektivität aufprägen. Das Letzte leitet die egozentrische Wende der Welt um das eigene Selbst ein, damit der Subjektivität beim Rückblick auf das gelebte Leben durch ein Selbstporträt aus Worten geschmeichelt wird.

Beide Schriftsteller sind überaus erfolgreich und kommen aus der französischen Arbeiterklasse, aus Reims und aus der Picardie. Sie bestechen mit der Radikalität, mit der sie die zentrifugalen Kräfte der sozialen Wirklichkeit auflesen. Das schockiert, macht Unsichtbares sichtbar. Mithin schreiben beide über dasselbe Thema: soziale Gewalt, die in den Wäldern der Klassengesellschaft überall lauert. Das zeigen sie. Die Gewalt grinst uns täglich an. Darin spottet unser Dasein unserem Selbst. Die Rede ist von Didier Eribon und Édouard Louis. Beide beziehen die literarische Technik und das literarische Rüstzeug, die sie in den Stand setzen, ihr individuelles Bewusstsein als Produkt ihres gesellschaftliches Seins darstellbar zu machen, von Annie Ernaux. Sie scheint die Königin autosozialbiografischer Literatur zu sein und ist offensichtlich die literarische Ziehmutter von Eribon und Louis. Es ist geboten, sich diese Linie zu merken: Ernaux-Eribon-Louis. Denn letztere werden mit ihrer konfrontativen Literatur ganz sicher die Gegenwart noch lange begleiten und dieselben sind in Gänze nur mit Blick auf Ernaux verständlich, von der kürzlich im deutschen Buchhandel »Erinnerungen eines Mädchens« erschienen ist.

Annie Ernaux ist eine Ich-Erzählerin par excellence

Die Unbestechlichkeit ihrer Technik, die sozialen Chiffren ihres Lebens zu dechiffrieren, zeigt sich beispielhaft in »Sich verlieren – Die Geschichte einer Obsession«. Die äußere Welt im Sinne eines naturalistischen Raums ist kaum präsent, ebenso wie bei Eribon und Louis. Vielmehr ist die Aufmerksamkeit auf das im Raum Wirkende abgestellt; die Gesten und Details, Bewegungen und Körperzeichen, Worte und Leidenschaften, die sie in ihrem Ich einfängt. Darin leuchtet die Lebendigkeit menschlicher und gesellschaftlicher Widersprüche hervor. Ernaux ist Realistin. Sie erzählt vom Wirkungszusammenhang der Dinge, nicht vom Schwindel einer naturgegebenen Seinsordnung in Raum und Zeit.
»Sich verlieren« ist ein glänzender Einstieg in die literarische Brillanz von Ernaux, die den sozialen Text, der der Welt eingeschrieben ist, im Schmelztiegel des Ichs lesbar macht. Der Vorteil in der Spiegelung der Welt im Ich liegt in der Betroffenheit, die diese Technik im Leser erzeugt. Das Ich ist kein isoliertes. Es ist Bespiegelung der Welt, ebenso wie die Welt Bespiegelung des Ichs wird. So zeigen Schriftsteller wie Ernaux, dass die Subjekt-Objekt-Einheit ein Dynamisches in Form eines Subjekt-Objekt-Verhältnisses ist. Sie greifen dieses Verhältnis von der Seite des Subjekts auf, ohne dabei in die Einseitigkeit des Ichs oder der des Objektiven zurückzufallen. Der Verlust der ganzen Wahrheit ist immer der Preis solcher Einseitigkeiten.

»Sich verlieren« ist ein Tagebuch, das Ernaux im Jahr 2000 veröffentlicht hat. Es beginnt am 27. September 1988 und endet mit dem Eintrag vom 9. April 1990. Es ist das unzensierte Originaltagebuch, das Ernaux über ihre obsessive Affäre führte. Diese Affäre begann in Petersburg mit einem sowjetischen Diplomaten, der an der Pariser Botschaft tätig war. „Über seine Tätigkeit, die offiziell kultureller Natur war, sprach er nie“, wie Ernaux im Vorwort anführt. In diesen zwei Jahren verlor sich Ernaux in der Lust und Leidenschaft zu ihm, die sich bis ins Obsessive steigerten. Das Tagebuch schildert eine schmale Gratwanderung zwischen Begehren, Wahrheit, Schmerz und Schreiben. In diesen zwei Jahren hatte sie nur dieses Tagebuch, das der „wahre Ort meines Schreibens war. Indem ich erotische Gesten und Worte verzeichnete, konnte ich das Warten auf das nächste Treffen ertragen und die Freude über das vergangene Treffen verdoppeln. Vor allem konnte ich so das Leben retten, konnte es vor dem Nichts retten, das dennoch immer näher kam.“ Die Ehrlichkeit Ernauxs erinnert an die der Tagebücher von Franz Kafka, für den das Schreiben der Ort der Wahrheit war.
Die Worte im Tagebuch sind für Ernaux „genauso unwiderruflich wie die Zeit – sie selbst sinddie Zeit.“ Im Grunde genommen geht es in dem Buch um die Wiederkehr des immer selben Rituals: „Er rief mich an, fragte, ob er am Nachmittag oder Abend kommen könne, manchmal auch, ob ich am nächsten Tag oder in zwei Tagen Zeit hätte. Er kam und blieb ein paar Stunden, in denen wir uns liebten. Dann ging er wieder, und ich lebte nur in Erwartung seines nächsten Anrufs.“ Das Interessante ist, dass Ernaux damit nicht langweilt; im Gegenteil, man befindet sich über 200 Seiten inmitten der kräfteverzehrenden Zerrissenheit, die sie zu ertragen versucht. Man erträgt mit. Neben den Fenstern weiblicher Sexualität, die sie dem Leser ohne Umschweife öffnet, durchquert man mit ihr die Paradoxien der Lust und Begierde, deren äußerste Punkte Heinrich von Kleist in seiner »Penthesilea« mit den berühmten Worten markiert: „Küsse, Bisse, / Das reimt sich, und wer recht von Herzen liebt, / Kann schon das Eine für das Andre greifen.“

Die Tragik, die sich in dem Tagebuch nach und nach entwickelt, nimmt Ernaux mit dem ersten Absatz des Buchs vorweg. So ist man im Lesen nicht auf die Überraschung aus: was wird jetzt passieren? Vielmehr weicht diese Unruhe einer Ruhe, die dem Leser die Kraft zur Aufmerksamkeit für das Geschriebene gibt. Da man das Ende zu Beginn erfährt, reformuliert sich die Hauptfrage in: was macht das, wovon ich weiß, was passieren wird, mit der Ich-Erzählerin – überdies, was macht es mit mir? So lädt sich eine Spannung auf, die sich gedanklich durchdringen lässt. Man liest in beiden Fällen zwar als Mitfühlender, jedoch nicht in der Form eines Getriebenen, worauf kulturindustrielle Literatur abzielt, sondern in der Form eines Mitgehenden, Begleitenden. Diese Vorwegnahme des Höhepunkts wird im Herbst 2000, zehn Jahre später, im Vorwort verfasst: „Am 16. November 1989 rief ich auf der sowjetischen Botschaft in Paris an. Ich verlangte Monsieur S. Die Telefonistin antwortete nicht. Es folgte ein langes Schweigen, dann sagte eine Frauenstimme: »Wissen Sie … Monsieur S. ist gestern nach Moskau abgereist.« Ich legte sofort auf. Mir war, als hätte ich diesen Satz schon mal am Telefon gehört. Es waren nicht dieselben Worte, aber sie hatten denselben Sinn, beinhalteten dasselbe Maß an Grauen und dieselbe Unmöglichkeit, diese Worte zu glauben. Danach erinnerte ich mich an die Nachricht vom Tod meiner Mutter vor dreieinhalb Jahren. Der Krankenpfleger hatte gesagt: »Ihre Mutter ist heute Morgen nach dem Frühstück verschieden.«“

Mit diesem Beginn weiß man, dass das Tagebuch mit dem plötzlichen Verschwinden von S. abreißen wird – es wird ein packendes Zeugnis sexueller Hingabe und ein faszinierendes Dokument emotionaler Zerbrechlichkeit.
Das Tagebuch lässt sich aber ebenso als ein letztes Abenteuer einer Linksintellektuellen aus Westeuropa mit dem roten Stern des großen Arbeiterstaates lesen, der mit Gorbatschows Perestroika und Jelzins Putsch zusammenbrechen sollte. Zwischen Erinnerungen an die verstorbene Mutter, Verarbeitungen des Kummers wie des Verlangens nach S. und ihrer Abtreibung mit ihrem vorherigen Ehemann, den ständigen Bezügen zu Marcel Proust und den Sympathiebekundungen zur Sowjetunion können hier junge Schriftsteller Elemente finden, wie mit der Form einer Ich-Erzählung sich das Prinzip des Realismus, sichtbarmachend gesellschaftliche Verhältnisse darzustellen, verwirklichen lässt. Annie Ernaux ist eine Ich-Erzählerin par excellence – in diesem Sinn sind Eribon und Louis bei ihr zur Schule des Schreibens gegangen.

Erlösung gibt es nicht

„Mein ganzes Leben wird eine Bemühung gewesen sein, mich der Lust des Mannes zu entziehen – meiner Lust. 1963 sagte ich mir immer den Bibelvers: »Wie einen Strom leite ich den Frieden zu ihr«, dabei wusste ich gar nicht, dass diese Worte meine Lust ausdrückten, das Sperma, das auf mir floss wie ein Strom.“ – auf ein Bibelvers folgt unvermittelt eine Anekdote zu ihrer Sexualität. Was zeigt Ernaux damit, was mit dem Untertitel des Buches und überhaupt mit dem Tagebuch als Ganzes?

Beim aufmerksamen Lesen begegnet man immer wieder in den Einträgen dem Begriff des Nichts oder dem des Nicht-Seins, das sie als ein Grauen überfällt, so als nage dieses Nichts an ihrer Existenz und fordere sie zu Stellungnahmen heraus. Eine Beklommenheit verfolgt sie wie ein Geheimdienstagent einen falschen Verdächtigen und zuweilen zeigt sie, wie diese Beklommenheit verstrickt ist mit dem Klassenhabitus, der sie wie ein Schatten verfolgt – bis ins Bett.
Die Psychoanalyse nennt dieses Nichts das Unbewusste. Der Meister der Psychoanalyse, Sigmund Freud, verpasste diesem die Deutungstrinität von Es, Ich und Über-Ich, sodass oft der Verdacht Nahe liegt, dass hier Psyche mit Psyche erklärt wird. Eine Zirkularität verfestigt sich zu einem Teufelskreis. Ernaux allerdings macht eines unverkennbar deutlich. Die Psyche muss in Relation zu Physiologie, Soziologie und zur geschichtlichen Situation gedacht werden, um ihre Wahrheit zu formulieren. Die Impulse und Affekte, die sie als Lust oder Grauen überfallen, sind Begierden ihres Körpers – nicht bloß der Psyche, in der dieselben das Bewusstsein penetrieren und in die Enge treiben. Hier, in der Psyche, steht das Bewusste unter Androhung des Unbewussten mit dem Rücken zur Wand und von dort aus flieht das Bewusste in die Notwehr, die die Psychoanalyse Verdrängung nennt. Woher kommt aber das Unbewusste?

Wer »Sich verlieren« von psychologischer Seite entschlüsselt, kommt auf das Ergebnis, dass das Unbewusste an der Schnittstelle zwischen Innen und Außen seinen Ausgang nimmt, mit anderen Worten: Das Unbewusste, das ist der Körper. Dieser erfährt die Klassengewalt von außen und transformiert sie in Form des Unbewussten mit all seiner Vielfalt ins Innen. Der Körper, der das Selbst in Raum und Zeit dreidimensional macht, ist die Schnittstelle oder besser: die Resonanzfläche zwischen Innen und Außen. Dabei verfolgt er keine Strategie. Er hat keine Absicht oder einen Willen, gar einen Plan. Er verfährt affektiv, von Stunde zu Stunde, taktisch nach der Diktion der Selbsterhaltung, zu dessen Zweck er jeden Schmerz in Kauf nimmt, ohne chronischen Schmerzen voraussehend vorzubeugen. Er denkt nicht und er vergisst nichts. Permanentes Erleiden ist sein Schicksal. Nicht Langzeit hat der Körper im Blick, sondern Kurzzeit. Dabei ist er ein allseitiger Sammler dessen, was dem Ich entgeht und nicht entgeht. Er ist das, was Nietzsche „die große Vernunft“ im Verhältnis zur „kleinen Vernunft“ bezeichnet, die das Ich ist. Der Bibelvers mit der Sperma-Anekdote fasst im Wesentlichen diese psychologische Seite des Tagebuchs zusammen.
Diese psychologische Wahrheit, die durchaus wertvoll ist, lautet: Erlösung gibt es nicht. Es gibt Sex.


©BILD: PICTURE ALLIANCE / GATTONI / LEEMAGE

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