O-Ton in Berliner Metros: „Entschuldigen Sie die Störung. Ich bitte Sie um ein paar Münzen, mit denen sich etwas Warmes kaufen lässt, zum Beispiel ein Tee oder eine Jacke. Ich hoffe, Sie haben Verständnis dafür, dass ich mir das nicht ausgesucht habe. Ich danke Ihnen für die Spende, die Sie jemandem, der auf der Straße lebt, was ich mir auch nicht ausgesucht habe, erweisen. Wenn Sie keine Spende haben, danke ich Ihnen auch, dass sie mir zugehört haben und wünsche Ihnen einen schönen Tag.“ Dann, Stille. Nur Geschrei der Schienen, wie zuvor. Niemand guckt den fleischlosen Mann mit grauen Haaren und Mütze, mit Wangen im Knochengebälk, mit Augen begraben im Gesicht, an. Er steht kerzengerade im Gemenge, in der Hand ein verbeulter Pappbecher. Nur die Durchsage spricht mit ihm. Die Metro hält an. Er steigt aus, ohne Rückgrat, gebrochen. Die Fahrt geht weiter.
Als Nicht-Berliner sind solche Metro-Szenen erschütternd. Ich kenne sie aus Orten, wo die Spuren meiner Existenz vergehen wie Staub im Wind. Aus solchen Orten komme ich. Man nennt sie Großstädte, oder mit anderen Worten: Akkumulationszentren des Kapitals. Sie bilden die sozialen Räume der Gegenwart. Allerdings ist mir die Vielzahl solcher Szenen nicht bekannt gewesen. Ich habe festgestellt, dass ich bei zehn Metrofahrten siebenmal einer Szene wie der geschilderten begegne – siebenmal einer anderen, die aus derselben Wirklichkeit Krallen nach mir wirft. Wahrnehmung schließt Erfahrung ein, immer. Jedesmal treten mir leidende Körper entgegen, deren Geist vom Tauschwert erdrosselt wird. Dann drängen sich mir Fragen auf wie: Wem gehört eine Stadt? Was für eine Stadt wollen wir? Warum gibt es kein Recht auf Wohnen? Was heißt Wohnen für einen Menschen und was heißt es, Mensch zu sein ohne Wohnung? Ist ein Mensch geboren, um obdachlos zu sein? Warum müssen sich Menschen nachts mit dem Mond decken und tagsüber unter der Sonne bücken – in einem Land von beschämendem Reichtum?
Mir geht es so, dass die Körper all der Geschlagenen das Manifest der Angst an jene verkünden, deren Körper noch nicht überzählig gemacht wurden von der Verwertung. Sie wirken wie in Ungnade gefallene Engel. Aus ihrer Not spricht die Drohung der Großstädte, die mir zeigt, Geduldeter zu sein. Angst diszipliniert. Das ist eine der vielen Lehren aus der Menschheitsgeschichte. Eine weitere ist: Wo Angst ist, siegt die Gewalt. Und dann ist da auch noch die Stille, die in all dem Lärm lauert. Es ist die Stille der Macht, die teilt und herrscht. Zuweilen erscheint der Verkehr als Organisation der Isolation aller, bis eine Leere in mir flüstert: Ich bin isoliert unter Isolierten. Das ist die Kehrseite der Verelendung, die heute intelligenter verfährt. Sie hat gelernt, was Tarnung heißt.
Berlin Ostbahnhof. Ausgang, Straße der Pariser Kommune – der Pariser Kommune von 1871. Griff in einen qualmenden Aschenbecher der DB. Ein junger Mann. Vielleicht in deinem Alter. Ganz sicher in deinem Alter. Sporthose, schwarze Mütze, verdreckter Rucksack. Er hat ein steinernes Gesicht mit fallenden Tränensäcken, rotgeädert. Er findet einen halben Zigarettenstummel und legt ihn zwischen die Lippen und läuft in den Bahnhof. Ich gehe hinterher mit „Entschuldigung, Verzeihung, Sorry“ und biete ihm eine Zigarette an. Er streckt seine Hand danach, instinktiv. Dann zieht er zurück, als er mein Alter aus meinem Blick liest. Der elektrische Schlag der Scham schlägt ihn zur Flucht. Ich denke, jederzeit kann es jeden treffen, auch dich. Dann ANGST – PROLETENANGST. Sicherheitsloser Fall ins Nichts. Du hattest bloß Glück. Deine Lage ist nicht dein Verdienst. Du bist nicht sicher. An keinem Ort. Nirgends.
*Das Titelbild habe ich fotografiert. Künstler: unbekannt.
Es ist in der U-Bahn-Station »Schönleinstraße« zu finden,
wo an Heiligabend 2016 Jugendliche einen schlafenden Obdachlosen
angezündet haben.
Er hat überlebt.
Starker Text! Danke!
Ich sehe Ähnliches. Und sehe es ähnlich.
Dies ist offenbar ein Bürokratenland, was nur Angepasste toleriert.
Die Macht des Geldes konzentriert sich auf Wenige. Angst hält alle in Schach.