Vorab: Ich bin kein Berliner. Deswegen habe ich was über Berlin zu sagen. Denn bekanntlich schaut man mit seinen zwei Augen auf die Welt. Was dabei abgeht, ist, dass man sich selbst nicht sieht, und gerade deshalb kommt es nicht selten vor, dass der Blick in die Welt mangelhaft ist. Man selbst fehlt. Die Philosophie spricht vom Erfordernis der Reflexion der Reflexion, in unserem Zusammenhang: vom Sehen des Sehens. Dafür braucht auch der Berliner einen Spiegel oder, was nützlicher ist, den Blick der anderen.
Meine Großtante, die ich in Kreuzberg besucht habe, ist über 80 Jahre alt. 18 Jahre hat sie, neben Mutter, Großmutter und Ehefrau zu sein, bei Siemens im Kabelwerk gearbeitet, das 1998 an Pirelli verkauft und 2001 stillgelegt wurde. Seither heißt die ehemalige Siemens-Produktionsstätte »Gewerbepark Gartenfeld«. Sie ist stolz darauf, 18 Jahre dort verbracht zu haben, zuweilen in Akkordarbeit, »wodurch ich viel Geld verdienen konnte«. Ihr Stolz ließ sich daran erkennen, dass sich ihr beim Erzählen eine Lebendigkeit in die Augen warf, als wenn der Wind sich in der Segel ballt. Stolz ist das Gefühl von Nützlichkeit, sollte es auch eine fal- sche sein. Heute ist meine Großtante normalerweise müde und ihre Körperbewegungen sind träge. Sie fühlt sich nicht nützlich. Das Alter sanduhrt. Die Lider fallen ihr wie Blei ins Gesicht, und während sie Stunden im Wohnzimmer liegt, wo der Fernseher pausenlos nuschelt, um die Leere und die Einsamkeit des Alters vergessen zu machen, stechen die dunkelrot geäderten Waden unter den hochgerutschten Hosenenden hervor. Als ich nach Einzelheiten fragte, erzählte sie lebhaft, dass sie in einer Abteilung arbeitete, wo nur türkische Frauen waren, begleitet von der Observation »deutscher Vorarbeiter«. So trennte die Geschäftsführung die billigen Arbeitskräfte von den teuren heimischen. Darin zeichnet sich die Raffinesse der Bürgerlichen aus, die Klasse der Schaffenden und Machenden bereits im Produktionsprozess, nein, bereits bei der Ankunft zu spalten. Die Klas- se darf nicht Einheit werden, auch nicht kulturell. Das verbietet die Gewalt des Wertgesetzes, das auch in der einstigen Siemensstadt Raum formte und Zeit taktete.
Was meine Großtante betrifft: Ihren Stolz lässt sie sich nicht nehmen, aber ein besseres Leben hat sie trotz der einstigen Versprechungen nicht. Das verrät ihr verbrauchter, aufgedunsener Körper, der niemals wieder ihr gehörte, seit die Siemensstadt ihn in die Ware Arbeitskraft verwandelt hatte. Das, was ihr bleibt, sind Erinnerungen, nach denen kaum jemand fragt – und Kreuzberg und die alten türkischen Gastarbeiterinnen in ihrer Nachbarschaft, die sich ebenso an die Akkordarbeit erinnern, »wodurch ich viel Geld verdienen konnte«. Beiläufig prägt sich den Enkelkindern bei »viel Geld« so etwas wie Neid in die Augen.
Solche Geschichten begegnen mir überall, jetzt sogar in Berlin. Einen türkischen Migrationshintergrund haben, heißt, dass deine vorgeburtliche Biografie in der Gastarbeiterschaft wurzelt – ob du willst oder nicht.