vonMesut Bayraktar 19.08.2019

Stil-Bruch

Blog über Literatur, Theater, Philosophie im AnBruch, DurchBruch, UmBruch.

Mehr über diesen Blog

Der vorliegende Text erschien erstmals im »Melodie & Rhythmus – Magazin für Gegenkultur« (3/2019) in der Kolumne »Klassendramatik«. Mit freundschaftlichem Einverständnis der M&R-Chefredaktion und der Geschäftsführung des Verlag 8. Mai ist der Text folgend zu lesen.

Ist Kunst realistisch, wenn auf der Bühne das Leben einer Verkäuferin mit einer »echten« Verkäuferin abgebildet wird? Theatermacher wie das erfolgreiche Performance-Kollektiv »She She Pop« oder »Rimini-Protokoll« bejahen diese Ausgangsfrage. Um die Realität unserer Welt zu zeigen, stellt man Experten des Alltags auf die Bühne. Manchmal sind es Manager, manchmal Theaterangestellte und manchmal Vertriebene. Echte Menschen erzählen echten Menschen vom echten Leben. Dabei bleiben sie, wie sie sind. Das ist der Leitgedanke. Resultat ist ein Reality-Showtheater für Intellektuelle.

In der Tat handelt es sich um ein postmodernes Dogma, das die Dialektik von Schein und Sein zu einer Identität von Schein-Sein degradiert. Aus der Umsetzung, die Realität unvermittelt mit Realität zu wiederholen, folgt, dass der gute Wille sich objektiv in die Zementierung der kapitalistischen Allgewalt des Bestehenden umkehrt. Es kommt zu einer affirmativen Reproduktion des Bestehenden. Die Realität, als Verdoppelte bestätigt, wird zur Ausweglosigkeit derer, die nach Auswegen suchen. Das Theater hört auf, Ort der Kritik zu sein. Es wird der Ort des Katechismus, der dem neoliberalen Subjekt Ablass gewährt, um seine Entsolidarisierung fortzusetzen. Bernd Stegemann hat vollkommen Recht, wenn er in seinem bis heute Aufsehen erregenden Buch Lob des Realismus schreibt: „Will man etwas über die Entfremdung der Verkäuferin erfahren, ist gerade die Verkäuferin die am wenigsten geeignete Person, Entfremdung auf einer Bühne zu zeigen.“ Warum? Weil sie entfremdet ist.

Welchen Anspruch hat also Realismus? Zum einen, objektive Realität als von Menschen produzierte ästhetisch zu zeigen, und zum anderen, den Schein des Realen mit der Realität des Seins zu enthüllen, damit die Entfremdung erfahrbar wird. Das Dramatische, das den Raum zwischen der sozialen Erscheinung und der sozialen Wirklichkeit öffnet, erlaubt Momente der Entfremdung zu verfremden. Dabei muss ich die Realität studieren, nämlich jene Verhältnisse, die die Realität produziert und reproduziert. Als realistischer Künstler muss es mir auf die Versinnlichung dieser Produktionsverhältnisse ankommen. Ich muss stets den Klassenkonflikt vor Augen haben. Dann arbeite ich dialektisch und verwandle die Ausweglosigkeit des Bestehenden in das Bestehen von Scheidewegen, die auf der Bühne vorscheinen.
Realismus kann also nicht bedeuten, Realität in der Kunst zu verdoppeln, vor allem nicht mit Experten des Alltags. Die Macht des Ästhetischen gründet doch geschichtlich gerade darin, dass die Grenzenlosigkeit der Kunst den Grenzen in der Welt gefährlich werden kann, indem die Bühne die unsichtbare Regieanweisung der sozialen Klassengewalt sichtbar macht. Diese Macht gilt es zu mobilisieren. Realistische Kunst hat die Klassengewalt zum Gegenstand ihrer Arbeit.

Um auf Stegemann zurückzukommen: Der Schauspieler ist die am ehesten geeignete Person, die Entfremdung einer Verkäuferin auf einer Bühne zu zeigen. Er hat die Fähigkeit gelernt, das Leben der Verkäuferin als das Leben in Charaktermasken widerzuspiegeln. Die Verkäuferin hat kein hartes Leben, weil sie Verkäuferin ist. Sie hat ein hartes Leben, weil das Leben im Kapitalismus hart ist.

Leider werden heute diese grundlegenden Stärken des Theaters ignoriert oder übersehen. Das Theater muss aber der Ort werden, wo der Betrachter quasi als Außerirdischer seine soziale Welt erfährt. Dann wird er bemerken, wie ungewöhnlich das Gewöhnliche seines Lebens ist. Er wird staunen und mit dem Akt des Staunens sich selbst und damit den Vollzug des Bestehenden in Frage zu stellen beginnen. So transformiert sich das Naturhafte seines Daseins in ein Dasein der Künstlichkeit, von der er ahnt, dass sie eine Bedrohung für ihn darstellt, die abschaffenswert ist. Im Moment der künstlerischen Verfremdung begreift er die faktische Entfremdung, als die sich das Naturhafte seines Daseins enthüllt. Er entwickelt Geschmack am Menschlichen.

Wir brauchen kein Reality-Showtheater für Intellektuelle. Wir brauchen ein Theater des Unbehagens, das hellsichtig macht.

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/stilbruch/2019/08/19/theater-des-unbehagens-statt-reality-show/

aktuell auf taz.de

kommentare

  • Hast du einen Anti-Postdramatisches-Theater-Text gelesen, kennst du sie alle. Mit Verweisen auf Hegel, Brecht und Stegemann inklusive

  • Richtig!
    Genau das hatte ja wohl auch Bertolt Brecht mit seinem V-Effekt im Sinn. Verfremdung als künstlerisches (!) Element, um Unbehagen zu stiften, Reflektion zu ermöglichen, gesellschaftliche Gegebenheiten in Frage zu stellen.
    Davon abgesehen finde ich dieses beschriebene Realitätstheater à la Rimini Protokoll stinklangweilig und so wenig erotisch wie eine überlagerte Gurke. Aber das ist natürlich nur meine Meinung.

Schreibe einen Kommentar zu Wernohold von Gut und Günstirg Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert