vonMesut Bayraktar 09.01.2020

Stil-Bruch

Blog über Literatur, Theater, Philosophie im AnBruch, DurchBruch, UmBruch.

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Die Kunst war nie ein Ort der Freiheit, ohne zugleich ein Ort der Unterdrückung zu sein. Sie war und ist kein herrschaftsfreier Raum. Die Widersprüche der Herrschaft lösen in ihr herrschaftsfreie Momente aus, die kluge Künstler für den Ausdruck von sozialer Wahrheit nutzen. Das geschieht selten, weil kluge Künstler rar sind – aber es geschieht. Als Teil des Überbaus ist die Kunst ein Schlachtfeld, wo soziale Klassen und Klassenfraktionen, welche Deutungsvorgaben für die Verhältnisse und Vorgänge in der Welt liefern, um kulturelle Hegemonie ringen. Ein Kampfplatz ist das Theater. Nur plumpe Idealisten leugnen dieses Faktum, weil sie die Existenz der Klassengesellschaft leugnen. Erst wenn die Klassengesellschaft überwunden ist, wird die Kunst sich als Ort der Freiheit etablieren. Dann wird Kunst kein Privileg mehr sein, sondern ihr historisches Versprechen einlösen.

Im Mai 2019 gingen Akteure Hunderter deutschsprachiger Kulturinstitutionen auf die Straße. Sie sehen die Kunstfreiheit in Gefahr und nennen sich »Die Vielen«. Ihre Parole: Die Kunst bleibt frei! In ihrer »Berliner Erklärung« steht, dass unsere Gesellschaft „eine plurale Versammlung“ sei – der ich, offen gestanden, bisher nirgendwo begegnet bin. „Viele unterschiedliche Interessen treffen aufeinander und finden sich oft im Dazwischen“ – wo die Klassenschranke die Interessen der Unterdrückten zerschlägt. „Es geht um Alle, um jede*n Einzelne*n als Wesen der vielen Möglichkeiten“ – die durch den Zwang des Tauschwertes, den die Klassengewalt im Rücken aller Einzelnen durchsetzt, verunmöglicht werden. Das ist der theoretische Ausgangspunkt der »Vielen«, der keine Praxis zulässt, schlimmer mehr noch: Er zementiert die Illusion, wir lebten bereits in der freien Assoziation, und die Kunst wäre schon frei. Das sind die üblichen Lügen aus dem Dogmen-Reservoir des linksliberalen Bildungsbürgertum, das sich selbst bis zur Wirtschaftskrise 2008 und dem darauf folgenden Vorstoß der Rechten mit der Postmoderne applaudierte.

»Die Vielen« verpflichteten sich auch zu einer „klaren Haltung“ gegen „Rechtsnationalismus“. Das ist ehrenvoll. Doch bei genauerer Betrachtung bleibt es bei einer bloßen Opposition gegen rechts, die sich nicht einmal als Verweigerung erweist. Im Ergebnis läuft sie auf den Erhalt des Bestehenden hinaus. Man will das, was ist, gegen Eingriffe von rechts bewahren. Nur wird dabei übersehen, dass das, was ist, die Rechten erst stark gemacht hat. Kulturpolitische Notwehr ersetzt nicht ästhetischen Widerstand.

Die Art, wie die Theaterhäuser auf den Kulturkampf reagieren, schürt Misstrauen vor allem in den unteren Klassen. Denn sowohl die »Die Vielen« als auch die Rechten, allen voran der AfD-Chefideologe Marc Jongen, berufen sich gleichermaßen auf die formale Kunstfreiheit. »Die Vielen«, weil sie sie von den Rechten bedroht sehen, und die Rechten, weil sie sich von ihr ausgeschlossen sehen und sie auf den Bühnen deutschnationale Identifikationsmomente vermissen. Wer dabei nicht zu Wort kommt, sind die wirklich Vielen, d.h. die von der Kunst Ausgegrenzten, die ein ungeheuerliches Bedürfnis nach einer Befreiung der Kunst haben.

Wenn Künstler und Theatermacher sich wirklich gegen rechts wehren wollen, statt sich nur um den Status quo zu sorgen, der den Rechten unentwegt zuspielt, müssen sie sich und allen anderen eingestehen: Die Kunst ist nicht frei, will sie es sein, muss sie sich befreien. Sie muss sich mit dem Kapitalismus befassen, vor allem ästhetisch, weil er Voraussetzung des Faschismus ist. Sie muss sich mit der Klassengewalt auseinandersetzen, um die Horizonte zu öffnen, die eine Assoziation der Freien aufscheinen lassen. Sie muss in der Einsicht, dass es ein richtiges Leben im falschen gibt, im Kampf gegen das falsche Leben, an einer Ästhetik des Widerstandes anknüpfen und sie fortentwickeln, um die Wände des Schweigens zu brechen. In der Tat stehen den Künstlern und Theatermachern entsprechende ästhetische Formen im Antifaschismus zur Verfügung. Man wird einwenden, ich fordere ein Propagandatheater. Das ist falsch. Denn Antifaschismus ist keine Ideologie – er ist militante Liebe zur Menschlichkeit. Er ist die konsequenteste Haltung gegen Barbarei, ausgestattet mit Mitteln, die Barbarei zu besiegen.

Inzwischen sollte man doch aus der Geschichte gelernt haben: Wer bloß gegen etwas ist, den verurteilt die Geschichte zur Niederlage. Warum sollte die Opposition gegen rechts nicht reale Perspektiven eröffnen, die über das Bestehende, das das Übel hervorbringt, hinausweisen?


Der vorliegende Text erschien erstmals im »Melodie & Rhythmus – Magazin für Gegenkultur« (4/2019). Mit freundlichem Einverständnis ist der Text nun auch im taz.stilbruch zu lesen.

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https://blogs.taz.de/stilbruch/2020/01/09/die-kunst-bleibt-frei-wer-hat-sie-befreit/

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kommentare

  • „Unter einer Meinung wird in der Erkenntnistheorie eine von Wissen und Glauben unterschiedene Form des Fürwahrhaltens verstanden.
    Nach einer verbreiteten philosophischen Begriffsverwendung ist das Meinen ein Fürwahrhalten, dem sowohl subjektiv als auch objektiv eine hinreichende Begründung fehlt. Dadurch unterscheidet sich das Meinen vom Glauben und vom Wissen. Von Glauben spricht man, wenn jemand eine Aussage für wahr hält, ihre Wahrheit also subjektiv als gesichert erscheint, obwohl der Glaubende keine objektiv zureichende Begründung dafür angeben kann. Der Unterschied zum Wissen besteht darin, dass der Wissende nicht nur von der Wahrheit der Aussage überzeugt ist, sondern auch über eine objektiv zureichende Begründung dafür verfügt.“

    (aus Wikipedia: „Meinung“)

    Wer über keine objektiv zureichende Begründung für das verfügt, was er sagt, hält besser den Mund. Die allgemeine Meinungsfreiheit ist dadurch wirkungsvoll gesichert. Vor allem im Bereich der politischen Meinungsäußerung wäre endlich Ruhe, denn Politik ist nur der Versuch, etwas zu „regeln“, was nicht geregelt werden kann, solange es sich durch das vom Kapitalismus befreite Spiel der Marktkräfte nicht selbst regelt. Dazu muss man erst einmal wissen, was Marktwirtschaft und was Kapitalismus ist. Die genaue Definition findet sich unter…

    https://opium-des-volkes.blogspot.com/2020/01/meinungsfreiheit-und-demokratie.html

  • „Erst wenn die Klassengesellschaft überwunden ist, wird die Kunst sich als Ort der Freiheit etablieren. Dann wird Kunst kein Privileg mehr sein, sondern ihr historisches Versprechen einlösen.“
    Allein die ersten Sätze enthalten so viele Fragezeichen. Aber der mir wichtigste Aspekt: Es haben ja schon viele Gesellschaften behauptet, „die Klassengesellschaft“ aufgelöst zu haben was dann m.E. zu einer „Zwei-Kastegesellschaft“ von „Systemtreue“-„Systemkritiker“ oder eben anderen in fundamentale Unfreiheiten geführt hat. Bei aller Sympatie für die Idee einer „anderen Gesellschaft“: die Diskussion darüber, in dieser Art wie der Autor sie führt, lockt doch keinen Arbeiter mehr an. Zu krass sind, bis in die jüngste Geschichte, die unterdrückenden Aspekte und knebelnden Machenschaften der „Modelle“ ans Tageslicht gekommen. Wer über die „Kosten“ eines Systemwechsels nicht sprechen möchte, sollte über die „Träume“ besser schweigen.

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