Letztes Wochenende, am 16. Mai, war ich auf dem Cannstatter Wasen in Stuttgart, um mir einen Eindruck vom bundesweit für Aufsehen sorgenden »Querdenken711« zu verschaffen. Die erst als winzige Hygienedemos in Berlin begonnene Leugnung des Virus scheint sich binnen weniger Wochen zu einer Massenbewegung unter dem Namen »Widerstand 2020« entwickelt zu haben. Ursprünglich war die Demonstration für eine halbe Millionen Teilnehmer gemeldet. Nachdem die Auflage von 5000 Teilnehmern erreicht wurde, haben die Zuströmenden im umliegenden Gelände Spontandemos ausgerufen. Zu sehen waren sehr gemischte Gruppen: Unternehmer, Impfgegner, Hooligans, Esoteriker, religiös Erweckte, Familien und Bauern aus dem schwäbischen Umland, die Deklassierung befürchtenden Mittelschichten und verängstigte Kleinbürger, Nationalisten, Rechtsradikale, Verschwörungstheoretiker mit Davidstern, Biker aus Österreich, junge Partyhelden aus der Techno- oder Goaszene, ewig Wissenschaftsfeindliche, Vendetta- und Aluhelmrebellen, vom Kapitalismus zur Ohnmacht Verurteilte, prinzipielle Regierungsskeptiker mit Regenbogenfahne oder Nationalflaggen und vor allem Ahnungslose und Unpolitische, die das Weltganze in Bedrängnis bringt. Die Letzteren leugnen zwar nicht direkt das Virus, sehen aber auch nicht die Beschränkungen ein, weswegen sie indirekt doch das Virus leugnen. Sie nehmen zwar linke Fyler bereitwillig an, beteuern hastig, nichts mit Rechtsradikalen zu tun haben zu wollen, fragen aber schüchtern, zuweilen angewidert, ob man zur Antifa gehöre. Fast niemand trug eine Atemschutzmaske. Die Teilnehmer bildeten keine Einheit. Sie waren ein Haufen.
Viele einte das Grundgesetz als zentraler Bezugsrahmen, auf dessen Grundlage sie abwägungslos ihre abstrakten Freiheitsgefühle verteidigten. Dabei halten Virologen und Epidemiologen nahezu einhellig Covid-19 für eine Gefahr für die Menschheit. Die Ursache des gesellschaftlichen Ohnmachtsgefühls personifizierten viele auf Einzelne. Niemand erkannte die pandemiebedingten Verwerfungen und Missstände im Zusammenhang mit der politischen Ökonomie des kapitalistischen Systems, das offensichtlich durch Nationalismus, Wirtschaftslobbyismus und politischem Führungsversagen bei der Bekämpfung der Pandemie international scheitert. Inzwischen wird nämlich bestätigt, dass die Coronakrise und die entsprechenden Maßnahmen der Regierungen mit aller Härte die unteren Klassen treffen, ökonomisch wie gesundheitlich, von Arbeitern in der Fleischindustrie über osteuropäische Erntehelfer auf deutschen Spargelfeldern zu Arbeitern in Krankenhäusern, im Bau und in der Logistik bis hin zu Asylsuchenden in Flüchtlingsheimen und an EU-Außengrenzen, Arbeitslosen, Ausgegrenzten und rassistisch Erniedrigten. Unzählige Existenzen werden und wurden bereits vernichtet. Dabei sind die materiellen Folgen der Krise noch bei weitem nicht in Erscheinung getreten. Die Demonstranten, die mehr und mehr von Rechten gekapert werden, erweisen sich vor diesem Hintergrund als teils unbewusstes Vehikel für Großbürgerliche und völkisch-nationale Fanatiker. Das Interesse der einen wird vom absoluten Vorrang des Verwertungsprozesses getragen, während die anderen in der Lage sind, den institutionellen Rahmen dafür zu liefern. Indem die Demonstranten denken, neben Nazis und Faschisten ließen sich Freiheitsrechte verteidigen, flankieren sie objektiv Teile des erstarkenden Monopolkapitals, das zur Sicherung der Profitrate nach den globalen Krisen seit 2008 autoritäre Herrschaftsmodelle anstrebt.
Um Grundrechte geht es nicht und wenn, dann nur vordergründig. In der Tat geht es den »Coronarebellen« um neoliberal eintrainierten Egoismus, der die politischen Folgen seines Tuns übersieht oder übersehen will. Das ist zynisch. Vielleicht haben dieselben noch in den ersten Wochen des Shutdowns für die Krankenpfleger applaudiert, was das moralische Gefühl entzückte. Wer weiß das schon. Zumindest wurde auf der Demo nicht für einen Gesundheitssektor gestritten, der von neoliberaler Strangulation und von dem Poker der Börsen befreit wird. Es wurde nicht darum gestritten, dass Steuergelder nicht als Dividende an Aktionäre ausgeschüttet werden. Es wurde nicht darum gestritten, dass in sämtlichen Berufen der Arbeitsschutz höchste Priorität haben muss und der Staat Schutzbedürftige und Risikogruppen mit allen Mitteln zu schützen hat. Es wurde nicht darum gestritten, dass man sich nicht mit einer erniedrigenden Einmalzahlung für systemrelevante Berufe zufriedengeben will. Es wurde auch nicht darum gestritten, dass das Vermögen der Reichen, die es der Arbeitskraft abgepresst haben, angetastet wird. Es wurde darum gestritten, dass Solidarität in der bürgerlichen Gesellschaft nichts ist und das Privatinteresse alles sein soll.
Veränderte Seinsverhältnisse verändern vorherrschende Bewusstseinsformen und eins wurde mir bei genauem Hinsehen am Wochenende deutlich: Hier formiert sich der Geist der Gegenaufklärung und die Tyrannei des Privatwohls. Sie befeuern einen Sozialdarwinismus, welcher als Scharnier zwischen Marktradikalismus und Faschismus fungiert. Vielleicht wissen die meisten Teilnehmer das nicht, aber ihr Tun bewirkt es. In letzter Konsequenz läuft die Verantwortungslosigkeit ihrer Parolen auf den Wunsch nach einer politischen Führung hinaus, für die der Schutz des Lebens vor allem unterer Klassen weniger gilt als der Schutz der Kapitalakkumulation und der Besitzenden. Die Lohnabhängigen und Schwachen können dabei vor die Hunde gehen. Einer solchen politischen Führung hat am selben Wochenende Brasiliens ehemaliger Präsident Lula da Silva von der Arbeiterpartei mit Blick auf seinen ultrarechten Nachfolger Bolsonaro wegen unzureichender Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus vorgeworfen, ein „Genozid“ zu verursachen. Er hätte hinzufügen können: Freiheit, die auf der Klassengewalt gegen Ausgebeutete gründet, ist bürgerlicher Individualismus.
Es besteht ein Unterschied zwischen Hungerrevolten in Chile gegen eine postfaschistische und repressive Regierung, die die Pandemie für die Erhaltung ihrer angeschlagenen Macht ausnutzt, und bewaffneten Demonstranten in US-Regierungsgebäuden, wozu ein Präsident im Weißen Haus für die Erhaltung des angeschlagenen US-Imperialismus anstiftet. Die hiesigen »Coronarebellen« sind in einer sich verändernden Welt sicher nicht in der Mitte dieser beiden Protestpole zu verorten. Die Ziele eines Protests bestimmen seine politische Tendenz und sein Charakter ist aus dem Widerspruch der Ziele zu seiner gesellschaftlichen Zusammensetzung abzulesen.
Gute Analyse. Genau wie bei den Klimawandelskeptikern beobachte ich bei den Virus“leugnern“ [1] denselben sozialdarwinistischen Drive, „mich betrifft das nicht — sollen die anderen verrecken“. Dort, weil sie sich reich genug wähnen, die Klimaanlage einfach aufzudrehen, hie weil sich eine Quarantäne in der Villa (mit zugang zu Amazon Prime) weit besser aushalten lässt, als in einer Favela in São Paulo oder in einem fulfillment center von Amazon.
Und oh, @MAIKA, hören Sie mir mit Harald Walach auf: Schwache Quantentheorie. Kozyrev-Spiegel. Ich finde, Alternativmedizin hat ihren Platz, aber der Mann diskreditiert sie noch.
[1] Nicht, dass sie das Virus selbst leugnen würden, aber schon, dass Vorsichtsmassnahmen geboten sind!