vonMesut Bayraktar 24.09.2020

Stil-Bruch

Blog über Literatur, Theater, Philosophie im AnBruch, DurchBruch, UmBruch.

Mehr über diesen Blog

In jeder gesellschaftlichen Krise hat die Todesbeschwörung Konjunktur. Vergangenes bricht sich Bahn in die Gegenwart und bemächtigt sich der von Angst dominierten Gedanken der Menschen – ein Zeichen, dass das Leben objektiv Deutung verlangt. So vermeldete das französische Verlagshaus Éditions Gallimard während der Hochphase der Pandemie im März, dass der Jahresbestand von Albert Camus‘ »Die Pest« bereits ausverkauft sei. Dasselbe erklärte der Rowohlt Verlag für die deutsche Ausgabe, und auf den Seiten der Onlineversandhändler hieß es: „Derzeit nicht auf Lager.“

In fast allen bürgerlichen Feuilletons war angesichts der der Coronakrise von der „Renaissance“ und „plötzlichen Aktualität“ eines Romans, der 1947 erschienen war. Erstaunt wurden vermeintliche Parallelen zur gesellschaftlichen Paralyse infolge der Kontaktbeschränkungen und Ausgangssperren festgestellt, wie sie Camus damals aus der Sicht seines Helden in der algerischen Stadt Oran beschrieben hatte. Die Empfehlung an Bildungsbürgertum, das sich den Rückzug ins Private leisten kann: Bleiben Sie zuhause, kochen Sie sich eine heiße Schokolade und lesen Sie »Die Pest« von Camus. So kann man gefühlte Entschleunigung genießen, die Ausdruck der geschichtlichen Beschleunigung realer Widersprüche ist.

Der Hype um »Die Pest« kam aus Sicht der Herrschaft wie gerufen. Reibungslos korrespondiert die Quintessenz des Romans mit der Botschaft  der Fernsehansprache der Bundeskanzlerin Angela Merkel im März. Als ideelle Gesamtkapitalistin appellierte sie an die durch den Neoliberalismus antrainierte Disziplin eines phantasmagorischen „Wir“, bei dem es angeblich auf jeden Einzelnen ankommt – ganz unabhängig von der Klassenzugehörigkeit, die auch »Die Pest« nicht kennt, denn sie würde „l’homme révolté“ um seine existentialistische Autonomie bringen. Schließlich soll das Verhalten von Dr. Rieux sowie seinen Freunden und Gefährten im Roman sagen, was mit dünnen Fäden an ein Diktum von Max Stirner geknüpft ist: „Mir geht nichts über mich“.

Natürlich wollte Camus die braune Nazipest allegorisieren. Es ging ihm aber auch um den Trost einer Philosophie durch Literatur, die ein Heil im bequemen Fatalismus der Vereinzelung verspricht. Was der Todesbeschwörung damals wie heute anhaftet: Weder der Roman noch das »Wir« der Kanzlerin zeigen, dass eine Krise im Kapitalismus einen Unterschied zwischen Reichen und Armen macht. Beide verhüllen die Realität der Klassengesellschaft mit der Sprache der Alternativlosigkeit.


Der vorliegende Text erschien erstmals im »Melodie & Rhythmus – Magazin für Gegenkultur« (3/2020). Mit freundlichem Einverständnis ist der Text nun auch im taz.stilbruch zu lesen.

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/stilbruch/2020/09/24/verhuellte-realitaet/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert