»Ich denke, also bin ich« heißt es bei Descartes. Der Affektenlehre Spinozas ließe sich die Frage voranstellen: Was bin ich, wenn ich nicht denke? Der Spielball äußerer Einwirkungen, die mich affizieren. Ich bin die „menschliche Ohnmacht“ und „Unfreiheit“, „denn der den Affekten unterworfene Mensch befindet sich nicht in seiner eigenen Gewalt, sondern in der des Schicksals, in dessen Macht er gefangen ist, sodass er oft gezwungen wird, dem Schlechteren zu folgen, obgleich er das Bessere einsieht.“[1] Ich bin – aber meine Freiheit ist die Freiheit eines anderen. Sie ist unter innerer oder äußerer Notwendigkeit subsumiert.
In der Tat ist es das große Verdienst Spinozas, Leib, Körper, Trieb, Affektapparat und Sinnlichkeit des Menschen untersucht zu haben, die zuvor als etwas Fehlerhaftes oder Störendes, gar Teuflisches am Menschen disqualifiziert wurden. Damit ist er der Wegbereiter der wissenschaftlichen Psychologie und der Psychoanalyse, die erst Ende des 19. Jahrhunderts entstanden sind. Den Affekt als „Leidenszustand der Seele“ zu verstehen (Leiden als Er-leiden im Sinne des Aristoteles) und daraus eine Theorie des Affekts zu entwickeln, gibt ihm eine Alleinstellung unter den Philosophen der Neuzeit, dessen er sich durchaus bewusst war: „Allein die Natur und die Kräfte der Affekte und was hinwiederum der Geist zu deren Bemeisterung vermag, das hat, soviel ich weiß, noch keiner festgestellt.“[2] Erst mit der Affektenlehre eröffnet sich die ethische Dimension seines Hauptwerkes, dessen Titel zu seiner rechtmäßigen Entfaltung kommt. Leider erlaubt es der Rahmen nicht, die Affektenlehre ausgehend von den drei Grundaffekten, unter denen die Mannigfaltigkeit aller Affekte subsumiert wird, und den drei Erkenntnisgattungen systematisch darzulegen. Vielmehr soll in aller Kürze auf die Rolle und systematische der Affektenlehre in der Ethik eingegangen werden.
1. Erkenntnistheorie bei Spinoza.
Auf die ontologische Grundlegung in den ersten zwei Teilen der Ethik folgt die Erkenntnistheorie, die bei Spinoza anthropologisch und ethisch verschränkt ist. Die Überlegenheit seines Konzepts zeigt sich darin, dass er den Menschen als Einheit seines Organismus von Körper und Geist zu denken vermag, statt ihn in das starre Gegenüber von Körper und Geist entzweien zu müssen. Damit öffnet er den Blick auf das, was die Psychoanalyse »das Unbewusste« nennt und was mit der marxistischen Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft das Gesellschaftlich-Unbewusste genannt werden kann. Nach Spinoza ließe sich sagen: Das Unbewusste, das ist der Körper, der die Resonanzfläche der Affizierungen ist. Durchschaut der Geist diese Affektwirkungen nicht, ist er ein leidender Geist. „Der Geist leidet nur deshalb, weil er nichtentsprechende Ideen hat“[3] von dem, wie er affiziert wird. Denn, so der zentrale Grundsatz: „Ein jedes Ding strebt, soviel an ihm liegt, in seinem Sein zu beharren.“[4] Der Affekt oder, was dasselbe ist, die Einwirkung von innen oder außen bringt dieses in sich beharren wollende Sein erst in Unruhe und Bewegung. Ebenso ist das Beharren in sich als Selbsterhaltungsstreben zu verstehen.
Nun liegt der Tenor der Affektenlehre darin, dass und warum das Einzelding bzw. das menschliche Einzelsubjekt nicht nachvollzieht, dass es in Unruhe und Bewegung kommt. Daraus quellt die Macht der Affekte, die die menschliche Knechtschaft ausmacht. Der Mensch vergesellschaftet mit Menschen ist Bewegter, ohne zu durchschauen, was ihn bewegt. Er ist die Voodoo-Puppe der Affekte, „weil die Menschen die Ursache ihres Verlangens nicht kennen. Denn sie sind (…) zwar ihres Tuns und Verlangens sich bewusst, aber unkundig der Ursachen, von denen sie bestimmt werden, etwas zu verlangen.“[5] Jede falsche Idee folgt aus der Unkenntnis seines Bewegtwerdens. Jede falsche Idee in diesem Sinne füttert das falsche Bewusstsein, das um sein Sein eine Ideologie baut. Da, wo der Täuschergott Descartes bloß eine gedankliche Hypothese des methodischen Zweifels war, wird dieser Täuschergott bei Spinoza physiologisch gewendet. Er ist anthropologisch konfiguriert. Er ist eine reale Täuschung, die in der Unkenntnis über sich selbst als Affizierter angesiedelt ist. (Bei Marx ist diese Täuschung gesellschaftlich und strukturell bedingt und wird daher Ideologie.). Spinoza geht es um das Erkennen solcher immanenter Wirkungszusammenhänge. Nun fragt sich, welches Ziel das Erkennen hat und was aus demselben folgt.
2. »Möglichkeit der Freiheit.«
Das Ziel eines ethischen Lebens ist nach Spinoza die Freiheit. Daher im Vorwort des fünften Teils: „Ich gehe endlich über zum anderen Teile der Ethik, der über die Mittel und Wege handelt, die zur Freiheit führen.[6] Die Freiheit ist in der Erkenntnis zu finden. „Je mehr Dinge der Geist (…) erkennt, desto weniger leidet er von Affekten, die schlecht sind, und desto weniger auch fürchtet er den Tod.“ Denn „das Wesen des Geistes besteht in der Erkenntnis“[7] und Erkenntnis ist grundlegende Bedingung für die Möglichkeit ursachenbezogener Praxis, die weltkonservierendes Verwalten mit weltveränderndem Tun bricht. Bedeutet das nun, dass der Affekt in der Erkenntnis neutralisiert werden muss, dass er rational aufgelöst werden muss?
Ja und Nein. Ja, weil wir von Einwirkungen getrieben werden, von denen wir uns inadäquate Vorstellungen und Ideen machen, die uns verwirren. Nein, weil Erkennen nicht notwendig in der Annullierung des Affektes münden muss. Vielmehr sind wir erst mit adäquaten Vorstellungen und Ideen über den Affekt potentiell imstande, frei zu sein, „so lange haben wir die Macht, die Erregungen des Körpers gemäß der der Erkenntnis entsprechenden Ordnung zu verketten und zu ordnen.“[8] Mit dieser Dialektik zieht Spinoza die Affekte und sinnlich-unbewusste Seite des Menschen in seine rationale Analyse. „Sich diese Beziehungen vor Augen zu führen oder sie zu rekonstruieren ist ein erster Schritt hin zur Brechung kontingenter Verbindungen zwischen (Vorstellung vom) Objekt und (wahrgenommenem) Affekt.“[9] Wir können entscheiden, ob wir uns in das Verharren unseres Seins, wohin es gravitiert, zurückziehen wollen oder ob wir den Affekt als Durchschautes zum Gegenstand unserer Lust machen und unser Selbstinteresse bewusst zu praktizieren beginnen. Der Geist muss sich selbst läutern. So lautet auch der letzte Lehrsatz der Ethik: „Die Glückseligkeit ist nicht der Lohn der Tugend, sondern die Tugend selbst; und wir erfreuen uns ihrer nicht deshalb, weil wir die Lüste hemmen, sondern umgekehrt, weil wir uns jener erfreuen, darum sind wir imstande, die Lüste zu hemmen.“[10] Spinozas Freiheit ist weltimmanent und delphisch. Sie lautet: Erkenne dich selbst, Gnothi seauton, in der Welt. Die Konsequenz dieser Selbsterkenntnis schafft Bedingungen für eine befreite Sinnlichkeit – nicht von sich selbst, sondern von inneren oder äußeren Determinanten, die sinnlich-bewusste Praxis verhindern.
Folglich hebt mit der Affektenlehre die Ethik in sein ethisches Projekt ab. Im erkenntnistheoretischen Durchgang, der auf die ontologische Grundlegung der Welt folgt, erscheint uns ein weltimmanenter Rationalismus, der zum glücklichen Leben verhilft. Wenn Spinoza von Liebe zu Gott spricht, meint er die Liebe zur Wahrheit, ist doch Denken, womit erkannt wird, ein Attribut Gottes – der begrifflichen Entsprechung zum Seinsganzen, das die Universalkategorie alles Seienden bei Spinoza ist. Wer erkennt und zu erkennen versucht, der liebt in dem Sinne, dass er ist. Eine adäquate Vorstellung oder Idee von etwas ist somit die „Rückkehr des Geistes zu Gott; und dies ist die menschliche Freiheit“[11]: Bewusstsein über das Seinsganze zu entwickeln. Denn gerade bei Spinoza vollzieht sich eine „radikale Enttranszendentalisierung des Gottesbegriffs, (…) der bloße Immanenzverhältnisse beschreibt“[12], also Verhältnisse von Herrschaft und Knechtschaft in der Maßgabe der Freiheit.
Freilich verschließt dieser anthropologisch-individueller Ansatz innerhalb der Ethik den Weg zu einer sozial-ontologischen und politischen Perspektive, was im Widerspruch zu der politischen Philosophie von Spinoza zu stehen scheint, hat er sich doch grundlegende Gedanken über das Politische gemacht.[13] Zudem sucht man bei Spinoza vergeblich nach der Geschichtlichkeit des Seins. Doch mit Spinozas Affekt-Begriff ist der Ankerpunkt einer Gesellschaftskritik gefunden, der die politische Ökonomie des Körpers in den Blick nimmt. Der Affekt ist nicht nur die Wirklichkeit der Unfreiheit. Er ist Garant für die Möglichkeit der Freiheit.
[1] Spinoza. Ethik. IV, VW.
[2] Spinoza. Ethik. III, Einleitung.
[3] Ebda. III, L 13.
[4] Ebda. III, L 16.
[5] Spinoza. Ethik. IV, VW.
[6] Ebda. V, VW.
[7] Ebda. V, L 38.
[8] Ebda. V, L 10.
[9] Martin Saar. Die Immanenz der Macht – Politische Theorie nach Spinoza. Suhrkamp Verlag, 1. Auflage, 2013. S. 115.
[10] Spinoza. Ethik. V, L 42.
[11] G.W.F. Hegel. Vorlesungen über die Geschichte. In: Vorlesungen über die Geschichte Band III. Suhrkamp Taschenbuch, 1. Auflage, 1986. S. 191.
[12] Martin Saar. Die Immanenz der Macht – Politische Theorie nach Spinoza. Suhrkamp Verlag, 1. Auflage, 2013. S. 85.
[13] Politischer Traktat und Theologisch-Politischer Traktat.
Hinweis: Das Essay erschien erstmal im Philosophie-Blog „Präfaktisch“. Mit Einverständnis der Redaktion ist es nun auch hier zu lesen.