vonAndreas Herteux 28.11.2021

Objektive Subjektivität

Ein Blog von Andreas Herteux, der sich mit Zeitfragen beschäftigt. Und das immer objektiv-subjektiv. Headerfoto: Berny Steiner / Unsplash

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Manchmal ist eine Diskussion so wichtig, dass sie in aller Breite geführt werden sollte, auch wenn ihre Relevanz sich erst in einigen Jahren zeigen wird. Genau das soll an dieser Stelle, mit Blick auf das Kommende geschehen. Es geht um unsere Leben in einer neuen Zeit. Um einen Blick auf die Welt des Morgens, wie er selten gewagt wird, da das Thema zu fern erscheint.  Ein „zu früh“ für diesen gibt es jeodch nicht, dafür aber ganz sicher ein „zu spät. Es gilt sich jetzt mit diesen Themen zu beschäftigen, sonst werden die Einfluss- und Steuerungsmöglichkeit stetig schwinden.

Lassen Sie uns daher, auch in schwierigen Zeiten, in denen oft nur auf Sicht gefahren wird und ganz ohne Umschweife sowie aufhaltende Einleitung, über die Zukunft reden und wie sich unser Alltagsleben in nur wenigen Jahren oder Jahrzehnten gestalten könnte. Dabei wollen wir uns einem speziellen Aspekt widmen und legen daher den Schwerpunkt auf technologische, gesellschaftliche und vor allem wirtschaftliche Weiterentwicklungen und deren Bedeutung für das Individuum. Was wird uns daher begegnen oder beherrschen? Welche Entscheidungen sind zu treffen? Was wird in Zukunft real sein und was nicht?

Spontan mag mancher nun, die Presse erwähnt es gelegentlich an der einen oder anderen Stelle, an die Entstehung eines Metaversums (engl. Metaverse) denken, wie es jüngst von Meta-Chef Mark Zuckerberg umrissen wurde. Obwohl wir eigentlich die Zeit nach diesem betrachten wollen, soll es kurz erläutert werden. Das Metaversum, eine Verschmelzung zwischen Schein und Sein soll die eigene Realität erweitern und so eine neue größere Wirklichkeit für den Einzelnen erschaffen, die letztendlich, sobald es entsprechende Standards gibt, aus vielen Ebenen bestehen wird. Am Ende bleibt nur Sein. Oder eben Schein. Das kommt auf die Betrachtungsweise an. Komplex? Stellen Sie sich einfach Ihre TV-Fernbedienung vor, nur schalten sie dann nicht zwischen verschiedenen Kanälen hin und her, sondern wählen aus selbsterbauten Welten oder Erlebnissen aus, die alle zu ihrer Realität gehören.  In diese tauchen Sie dann tiefer ein und können sie auch gestalten. Sie können irgendwann auch wählen, was ihre Hauptwirklichkeit sein soll, denn auch, um das Beispiel noch einmal zu bemühen, der Platz vor dem imaginären Fernseher, wird letztendlich nur ein Knopf auf der Fernbedienung sein.

Und ja, bis dahin ist der Weg lang. Erst wird das alles furchtbar bieder und linear sein, später aber werden sich auch Konsequenzen revidieren lassen. Ihnen gefällt eine Entscheidung nicht? Dann switchen Sie einfach auf das andere Programm, spulen Ihre Realität zurück und Alles bleibt wirklich. Das wäre aber dann schon das Metaversum für Fortgeschrittene. Reden wir darüber in ca. 10 – 15 Jahren. Gleich wie, Sie wären in diesem Gedankengebäuden kein passiver Konsument mehr, sondern überall mit vollem psychischen und physischen Einsatz dabei. Eine Verschmelzung, deren Konsequenzen heute noch gar nicht vollumfänglich bedacht werden kann. Der Verhaltenskapitalismus hat die Tür geöffnet, die Reizgesellschaft den Weg bereitet; nun gilt es einzutreten.

Doch, über dieses Metaversum möchte dieser Beitrag gar nicht reden, sondern über das, was aus diesem werden wird, denn es ist letztendlich nur eine Phase im Zeitalter des kollektiven Individualismus des 21. Jahrhunderts. Viel interessanter ist doch die weitere Entwicklung und was danach und ganz am Ende kommen könnte. Nein, was kommen wird.

Was genau? Seien wir kühn und behaupten, dass die Antwort ganz einfach wäre: Ganz zum Schluss wartet eine Wirklichkeit, die keine Kausalität mehr braucht und in der die Bedürfnisbefriedigung unmittelbar und unabhängig von einer Ursache erfolgen kann. Klingt sehr abstrakt oder gar verrückt? Vielleicht so merkwürdig, wie das Verhalten ganzer Milieus, deren Freiheitvergnügen darin besteht, sich stundenlang ein Kurzvideo nach dem nächsten anzusehen und dann gar nicht mehr zu wissen, welches nur ein paar Minuten zuvor abgespielt wurde? Die Saat ist daher längst aufgegangen, was auch die eigene Forschung zeigt. Unter Mithilfe der Erich von Werner Gesellschaft konnte jüngst eine Untersuchung durchgeführt werden, deren Ergebnisse noch nicht publiziert wurden. Nach dieser nutzen alle der Befragten, die im Übrigen durchgehend im Pflegebereich aktiv sind, ihr Smartphone mindestens 2 – 3 Stunden täglich. 50% sogar 4 – 5 Stunden. Absoluter Favorit sind dabei Formate mit kurzen und schnellen Reizen wie, um nur zwei Beispiel zu nennen, Youtube- oder TikTok-Videos.

Wichtigste Voraussetzung für diesen kausalbefreiten Endpunkt wäre es allerdings, dass künstliche Reize, die bislang von außen auf den Menschen einwirken und ihn zu einer Reaktion veranlassen soll, künftig aus dem Inneren wirken. Selbstverständlich reden wir an dieser Stelle von einer schrittweisen Entwicklung.  Eine technologische Unmöglichkeit ist das nicht, denn es ist nur eine Frage der Zeit, bis entsprechende, verhaltenskapitalistisch-gesteuerte, Stimuli direkt in die menschliche Physis und Psyche eingreifen können. Um es noch einmal zu verdeutlichen und nur, dass man mich nicht missversteht. Es geht um eine Ablösung oder Ergänzung von externen Reizen, wie beispielsweise den Kaufimpuls durch Werbung, der erst wahrgenommen und verarbeitet werden muss, durch innere, die direkt auf einzelne Organe bzw. Nerven und damit das Wohlbefinden wirken.

Vielleicht im Körper implantiert, vielleicht durch Gerätschaften stimuliert, vielleicht durch Pillen oder Kanülen eingeführt. Das Wort „vielleicht“ fällt hier oft, da wir die Standards der Zukunft noch nicht kennen. Man denke hier aber beispielsweise nur an die tiefe Hirnstimulation, unmittelbar das zentrale Steuerungselement des Körpers beeinflussend, die ab einem gewissen Punkt nicht nur zur Behandlung von Erkrankungen, sondern auch zur individuellen Bedürfnisbefriedigung eingesetzt werden könnte. Das wäre aber nur ein einziges Beispiel. Der Weg wird daher von der reinen Therapie eines Mangels zur Optimierung des Einzelnen führen. Stück für Stück. Eine logische Entwicklung, oder?

Es mag sein, dass manches noch davon noch Jahre dauern wird, aber wer hätte im Jahr 2000 die Dominanz des Verhaltenskapitalismus oder nur des Smartphones, letztendlich eines der zentralen Einfallstore, um verhaltenskapitalistische Stimuli von außen tief in das Private und Innerste vordringen zu lassen, vorausgesehen? Der Homo stimulus, jene neue Form des Menschen, die auf schnelle hochfrequentierte sowie künstliche Reize konditioniert wurde und diese oft sogar bereitwillig in sein Leben integriert, existiert bereits. Er ist bereits die dominierende Form menschlichen Seins.

Im Moment müssen die großen Verhaltenskapitalisten wie Meta, Google, Tencent & Co., die nicht die großen Spieler der Zukunft sein müssen, die wichtigste Ressource des 21. Jahrhunderts, das menschliche Verhalten, abschöpfen, umwandeln, Produkte aller Art anbieten und so das Individuum Schritt für Schritt einbetten.

Kreislauf_des_Verhaltenskapitalismus_Andreas_Herteux_Erich_von_Werner_Gesellschaft

 

Ein Prozess, der zwar automatisiert wurde, aber auch noch optimiert werden könnte. Trotzdem bislang größte Beeinflussungsmöglichkeit der Weltgeschichte sagen die einen. Endlich ein Weg, um versteckte Bedürfnisse herauszuarbeiten, freizulegen und zu befriedigen, die anderen. Dennoch bleibt es ein externer Vorgang außerhalb des menschlichen Körpers. Wäre es da so unvorstellbar, dass ein nächster Schritt darin bestehen könnte, die „Transportwege“ der Reize zu verkürzen und damit das Angebot zu „optimieren“ und damit auch die Bedürfnisbefriedigung?  War das nicht kalte marktwirtschaftliche Logik; völlig egal ob wir nun von einem Verhaltenskapitalismus westlicher oder östlicher Prägung sprechen? Das wirft, aber das sei nur am Rande erwähnt, auch die Frage auf, warum die Kapitalismuskritik diese Mechanismen der nunmehr dominierenden Variante, die längst weitaus bedeudender ist, als der Produktions- oder Finanzkapitalismus es je waren, da sie in das Innerste vordringt, nicht ausreichend zu erkennen vermag.

Doch zurück zum eigentlichen Thema. Der Homo stimulus wird sich daher weiterentwickeln und zu den externe Reizen werden sich innere gesellen. Wenn Sie sich also fragen, wo diese großen Verhaltenskapitalisten des Endziel ihre Märkte irgendwann in der Zukunft sehen werden; bei genau den beschriebenen Punkten. Ob Sie das bereits jetzt wissen? Vermutlich nicht, aber wenn erst einmal der Weg eingeschlagen ist, dann ist die Erkenntnis unvermeidlich. Es handelt sich um eine strukturelle Entwicklung, keine die den Zündfunken des Einzelnen benötigt.

Doch ist das die Vollendung des kollektiven Individualismus? Nein, ist es nicht. Die gestaltet sich auf eine etwas andere Art und Weise, allerdings möchte ich hierfür ein wenig ausholen. Als noch sehr junger Mensch mochte ich metaphysische Spekulationen, habe selbst, mit kindlichem Gemüt, einige Thesen aufgestellt, sie niedergeschrieben und ungefähr 15 Jahre später, nachdem sie ihren Tiefschlaf in der berühmten Schublade hielten, wurden diese von einem Verlag auch in Buchform veröffentlicht. Das ist inzwischen auch schon Jahre her, das Buch ist vergriffen, weswegen sich eine Selbstbewerbung nun so gar nicht lohnen würde. Eine kleine Spekulation darin war ein mehrstufiges Modell des Menschen. Meine Hobbys sollen an dieser Stelle keine große Rolle habe, dafür aber eine Ebene dieses Modells, die für das Thema durchaus Relevanz aufweist. Eine der vier Wahrnehmungsebenen, die ich damals als Welten- oder auch indeterministisches-Ich bezeichnete, oder einfacher als eine Form mannigfaltigen menschlichen Seins bar jeglicher Kausalität, umschreibt diese mögliche Zukunft doch recht gut. Zu damaliger Zeit hatte ich, und das räume ich ein, Schwierigkeiten dieses jugendliche Gedankenkonstrukt in plastische und griffige Beispiele zu transformieren, denn zu Beginn der 2000er war dies einfach zu abstrakt. Das hat sich geändert.

Inzwischen ist ein Teil davon, in dem gestrebt und befriedigt wird, ohne, dass es auf irgendeine Art und Weise darauf ankommt, was auch nur eine einen Moment zuvor war oder danach vor- und darstellbar. Man erinnere sich nur wenige Zeilen zurück, in denen das Beispiel der sofort vergessenen Videos genannt wurde. Was für einen Clip es zuvor gab, interessiert nicht. Der danach auch nicht. Nur das, was genau dieser in diesem Moment bewirkt. Bedarf? Impuls? Bedürfnis? So sehet die Zeichen. In Zukunft nicht durch einen externen, sondern durch einen internen Stimulus sofort gestillt.

Ob man die momentane Wirklichkeit, in der man ein Teil einer Ordnung ist, ein Stückchen des Ganzen, von mir einst Protagonisten-Ich oder auch „Klassiker“ genannt, dann überhaupt noch als Mittelding braucht? Muss man nicht mehr essen? Können überhaupt alle ein Leben der stetigen Befriedigung führen oder wäre nicht vielmehr eine Mischform denkbar? Wird man so nur die Freizeit verbringen? Müssen dafür die Verteilungs- und Milieukämpfe beendet sein? Wer weiß das schon? Die heutige Perspektive ist für solche Fragen genauso denkbar ungeeignet, wie sie für meine Überlegungen am Anfang der 2000ern waren, da die Rahmenbedingungen und Entwicklungen noch nicht gegeben sind.

Zweifellos wirft das alles viele Fragen auf und die Wichtigsten werden sein: Was überhaupt ist Wirklichkeit und was ein gutes menschliches Leben? Für viele Menschen, im Besonderen in den Gesellschaften mit einem Mindestwohlstand, ist alles bereits verwischt. Einerseits ein Rädchen in der Gesellschaft, andererseits der Star im Netz, um den sich alles dreht. Der König in der eigenen Welt. Ein möglicher Konflikt, der immer größer werden könnte? Moderne Identifikationsdissonanz nennt man das; richtig. Wie diese neue Welt ganz am Ende einst genau aussehen wird? Es bleibt ungewiss. Sicher ist nur, dass sie jenseits der Kausalität zu finden sein wird.

Doch seien wir beruhigt, denn wir reden bei diesem Endpunkt, der in Wahrheit wieder nur die Startlinie eines neuen Laufes in der Geschichte der Menschheit sein wird, nicht von Jahren, sondern von einer Entwicklung, die vermutlich das ganze 21. Jahrhundert und darüber hinaus andauern wird. Und, seien wir ehrlich, wenn Sie diesen Beitrag, mit dem bewusst provozierenden Titel („beherrschen“) schon lesen, dann wollten Sie doch auch etwas über die Vision einer möglichen Zukunft wissen, oder?

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