Wie hier schon ausgiebig berichtet, steht in Karlsruhe zur Zeit ein Journalist von Radio Dreyeckland vor Gericht.
I.
Am Freitag berichtete ich im Interview mit dem Freien Sender Kombinat (FSK) Hamburg vor allem über den sechsten Prozeßtag (Dienstag, den 14.05.2024) und äußerte mich zur allgemeinen Einschätzung des Verfahrens:
https://www.freie-radios.net/128714
Siehe dazu außerdem:
Der sechste Tag im Radio Dreyeckland-Prozeß. Deutsches Vereins- und Strafrecht gefährdet Journalisten von freiem Rundfunksender,
in: de.indymedia vom 19.05.2022
II.
Über den siebenten Verhandlungstag (Donnerstag, den 16.05.2024) berichtet in der heutigen Ausgabe der Stuttgarter Wochenzeitung Kontext Minh Schredle ausführlich:
Prozess gegen Fabian Kienert, RDL. Staatsanwalt hat sich verhört
https://www.kontextwochenzeitung.de/medien/686/staatsanwalt-hat-sich-verhoert-9552.html.
Unter anderem schreibt Schredle:
„der Staatsanwalt [… sieht] etwas, das er als ‚objektiven Anknüpfungspunkt‘ ausgibt, und zwar dafür, dass ‚der Angeklagte sich selbst weniger als einen am ›Pressekodex‹ orientierten Journalisten, sondern als einen der linken Szene zuzuordnenden politischen Aktivisten einordnet‘. […]. Laut Heim [Vorsitzender der Landgerichtskammer, vor der der Prozeß stattfindet] würden sich die Ausführungen der Staatsanwaltschaft ‚an der Grenze zum Ehrabschneidenden‘ bewegen, er halte sie für ‚rechtlich problematisch‘. Die Kammer habe sich veranlasst gesehen, Kienerts Berufsbild zu prüfen und komme zum Ergebnis, dass dieses ‚primär journalistisch‘ sei. Entsprechend gebe es auch keinen Anlass, die in Artikel 5 des Grundgesetzes garantierte Pressefreiheit für ihn weniger stark zu berücksichtigen – so wie es Graulich in seinem Beweisantrag fordert.“
Nachdem ich das gelesen hatte, richtete ich gleich eine Reihe von Frage an die Pressestelle des Landgerichts (eine Antwort gibt es auch schon; siehe unten):
1. Sind diese Äußerungen so gefallen? Oder was wurde tatsächlich gesagt?
2. Inwiefern kommt es nach Ansicht der Kammer für die Strafsache gegen Kienert überhaupt auf eine Abgrenzung von ‚politischem Aktivismus‘ und Journalismus an?
a) Teilt die Kammer die Auffassung, daß alle Menschen („jeder“) – sofern das BVerfG nicht im Einzelfall die Verwirkung dieser Grundrechte gem. Art. 18 GG ausgesprochen hat – das Recht haben, Meinungen zu äußern und Tatsachen zu berichten – daß also auch politische AktivistInnen von Art. 5 I GG geschützt sind?
b) Teilt die Kammer die Auffassung des BVerfG, daß Tendenzfreiheit ein wesentliches Element von Presse- und Rundfunkfreiheit ist (BVerfGE 12, 205 – 264 (260 f.); https://www.servat.unibe.ch/dfr/bv012205.html#260, Texziffer 179 [„Tendenz“]; BVerfGE 80, 124 – 137 (134); https://www.servat.unibe.ch/dfr/bv080124.html#133; Textziffer 28 [„bestimmte Meinungen oder Tendenzen weder begünstigen noch benachteiligen“; vgl. auch Art. 3 III 1 GG]; https://www.servat.unibe.ch/dfr/bv020162.html#174; Textziffer 35: „nimmt […] Stellung“)?
c) Teilt die Kammer die Auffassung, daß z.B. auch Parteizeitungen dem Schutz der Pressefreiheit unterliegen?
d) Teilt die Kammer folgende Auffassung des BVerfG:
„Der Begriff ‚Presse‘ ist weit und formal auszulegen; er kann nicht von einer – an welchen Maßstäben auch immer ausgerichteten – Bewertung des einzelnen Druckerzeugnisses abhängig gemacht werden. Die Pressefreiheit ist nicht auf die ’seriöse‘ Presse beschränkt (Maunz-Dürig-Herzog, Grundgesetz, Art. 5 Rdnr. 128 f.; vgl. auch BVerfGE 25, 296 [397] und – für den Rundfunk – BVerfGE 12, 205 [260]). Daraus folgt jedoch nicht, daß der Schutz des Grundrechts jedem Presseorgan in jedem rechtlichen Zusammenhang und für jeden Inhalt seiner Äußerungen in gleicher Weise zuteil werden müßte.“ (BVerfGE 34, 269 – 293 [383]; https://www.fallrecht.ch/bv034269.html#283)
?
e) Teilt die Kammer die Auffassung des BGH, daß auch auch Publikation wie die Zeitschrift „radikal“ in den Anwendungsbereich der Landespressegesetze fallen (Urt. v. 20.02.1990 zum Az.: 3 StR 278/89; https://research.wolterskluwer-online.de/document/d070abba-15a1-49e4-a789-3a22439c9f63, Tz. 24 f.)
f) Teilt die Kammer meine Schlußfolgerung daraus, daß es für die Strafsache gegen Kienert insofern also
+ nicht auf eine wie auch immer geartete Abgrenzung von ‚politischem Aktivismus‘ und Journalismus ankommt,
+ sondern auf die Auslegung
++ des Begriffs „unterstützt“ in § 85 II StGB,
++ des Ausdrucks „Berichterstattung über Vorgänge des Zeitgeschehens oder der Geschichte oder ähnlichen Zwecken“ in § 86 IV StGB,
++ auf das systematische Verhältnis zwischen dem Unterstützungstatbestand in § 85 II StGB sowie dem § 86 StGB (vgl. BTag-Drs. V/2860, S. 9: Unzulässigkeit, „in § 86 StGB i. d. AF beschlossenen Einschränkungen“ zu umgehen)
und
++ des Begriffs „allgemeinen“ in Art. 5 II GG?g) Teilt die Kammer die Auffassung, daß der Presserat eine Einrichtung der „Freiwillige (!) Selbst(!)kontrolle der Printmedien und deren Online-Auftritte in Deutschland“ (https://www.presserat.de/aufgaben-organisation.html) und der Pressekodex ein Dokument der BerufsETHIK (https://www.presserat.de/files/presserat/dokumente/download/Pressekodex2017light_web.pdf) – also keine juristische Norm – ist und daß es daher mit der Pressefreiheit gerade UNVEREINBAR wäre, wenn sich die (staatliche) Strafjustiz anheischig machen würde, eine bestimmte Auslegung des Pressekodex – zumal für solche JournalistInnen, die im Presserat gar nicht vertreten sind – festzuschreiben und zu implementieren?
3. Teilt die Kammer also meine Auffassung, daß schon der rechtliche Grundansatz der Staatsanwaltschaft Karlsruhe – falls sie tatsächlich so argumentiert (hat), wie von Kontext dargestellt – und nicht erst dessen Applikation auf Herrn Kienert grundrechtlich verfehlt ist?
4. Wird die Kammer den Verfahrensbeteiligten vor den Plädoyers rechtliche Hinweise zu ihrer Auslegung des auf den Fall „Kienert“ anzuwenden einfachen und Verfassungsrechts geben, sodaß Staatsanwaltschaft und Verteidigung sich damit in ihren Plädoyers auseinandersetzen können (vgl. Art. 103 I GG; Verbot von Überraschungsentscheidungen)?
Abgesehen davon, daß auch die erste Frage nicht inhaltlich beantwortet wird, lautet die nicht so überraschende Antwort der Pressestelle des Landgerichts:
„zu möglichen rechtliche Einschätzungen der Kammer und zu konkreten Dialogen aus der laufenden Hauptverhandlung kann ich keine Auskunft erteilen. Insbesondere im Hinblick auf die rechtlichen Beurteilungen muss ich darum bitten, das Ende des Prozesses und die Urteilsverkündung abzuwarten.“
Auch der Pressestelle der Staatsanwaltschaft Karlsruhe habe ich zu diesen und weiteren Punkten Fragen gestellt; von dort gibt es noch keine Antwort – darum wird es dann demnächst in einem separaten Artikel gehen.