Staatsanwalt Graulich ging in seinem gestrigen Plädoyer im Radio Dreyeckland-Prozeß gegen den Journalisten Fabian Kienert, weil er etwas tat, was andere JournalistInnen auch taten (Das Archiv von linksunten.indymedia verlinken), auch auf meine Aussage vom 23.04. in dem Verfahren ein.
Ich hatte damals sinngemäß ausgesagt:
„1. Mit der Software HTTrack ist es möglich, komplette Websites (auch fremde Websites) auf den eigenen Rechner herunter zu laden. Diese Daten können anschließend bzw. später verwendet werden, um sie erneut ins internet stellen (aber immer brav auf das Urheberrecht achten ;-)). (Siehe zu der Software meinen Bericht in der jungen Welt vom 27.12.2023.)
2. Ich kannte die Software HTTrack schon 2017.
3. Ich hatte am 17.08.2017 früh von dem Verbot mitbekommen.
4. Ich hatte also das nötige Wissen und auch freie Zeit, um mir die Daten noch am Vormittag / Mittag des 25.08.2017, solange sie noch online waren, zu besorgen.
5. Ich hatte auch ein politisches Interesse an den Daten / Inhalten und deren öffentlicher Zugänglichkeit.“
(https://blogs.taz.de/theorie-praxis/haelt-nicht-einmal-mehr-die-polizei-der-staatsanwaltschaft-karlsruhe-die-stange/)
Staatsanwalt Graulich warf gestern nun die Frage auf:
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Wenn ich mir die Daten tatsächlich am 25.08.2017 (oder kurz vorher: leicht unvollständig) mittels HTTrack beschafft hätte
und
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wie behauptet, ein so großes Interesse daran hatte, daß die Daten der Öffentlichkeit wieder zu Verfügung stehen,
warum habe ich dann bis zum Januar 2020 mit der Archivveröffentlichung gewartet? Zeige der späte Veröffentlichungszeitpunkt nicht, daß ich mir die Daten am 25.08.2017 nicht beschafft habe und meine Aussage nur gemacht habe – mich als mögliche Archiv-ErstveröffentlicherIn nur ins Spiel gebracht habe –, um zu versuchen, Kollegen Kienert den Kopf zu retten?
Außerdem behauptete Staatsanwalt Graulich, der vom Gericht beauftragte IT-Sachverständige habe angegeben, der bei linksunten.indymedia eingesetzte Schutz vor DDOS-Angriffen mittels der Software Deflect, habe den erfolgreichen Einsatz der von mir erwähnten Software HTTrack jedenfalls für technische LaiInnen schwierig gemacht.
Leider hat mir Staatsanwalt Graulich weder die erste Frage in meiner Vernehmung gestellt noch mich ein zweites Mal laden lassen, um mich mit der – von Staatsanwalt Graulich behaupteten – Angabe des Sachverständigen zu konfrontieren. Deshalb seien nun an dieser Stelle die beiden Antworten gegeben, die ich Staatsanwaltschaftlich Graulich anderenfalls in der mündlichen Verhandlung gegeben hätte:
Zu „Warum erst im Januar 2020?“
Eines vorweg: Ich lasse mich auch durch das gestrige Plädoyer nicht provozieren, zu sagen, ob ich es nun war oder nicht war. – Aber ich ergänze gerne noch:
1. Falls ich das linksunten-Archiv nicht nur gespiegelt, sondern auch erstveröffentlicht haben sollte, so hätte ich dafür gute Gründe gehabt, es im Januar 2020 zu tun:
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Das Archiv kurz nach dem Verbot zu veröffentlichen, wäre nicht nur gegenüber dem Staat, sondern auch gegenüber dem alten BetreiberInnenkreis, der vermutlich der Urheber der Entfernung der Artikel aus dem Netz ist, und gegenüber den VerbotsadressatInnen, die sich zu einem juristischen Vorgehen entschlossen, konfrontativ gewesen.
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Nun hielt ich zwar das juristische Vorgehen angesichts der konkret gewählten Argumentation, die § 2 Vereinsgesetz und die bisherige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (siehe 1 und 21) ignorierte, von Anfang an für wenig erfolgsträchtig, aber ich habe mir lange Zeit verkniffen, das auch öffentlich zu sagen.
Statt dessen habe ich gute Miene zu dem – von mir für schlecht befundenen – juristischen Vorgehen der VerbotsadressatInnen gemacht (Hoch lebe der Szenefrieden!) und meine abweichenden juristischen Argumente als ergänzende Argumente vorgetragen, ohne öffentlich ausdrücklich zu sagen, daß sie auf anderen Prämissen beruhen als die juristische Argumentation der VerbotsadressatInnen. -
Bis Ende 2019 / Anfang 2020 hatte sich aber gezeigt, daß meine Argumente von den AnwältInnen der VerbotsadressatInnen nur wenig aufgegriffen und in deren eigener Argumentation eingebaut wurde (auch wenn sich auch deren Argumentation im Laufe der Zeit etwas vom ‚Vereins-Konstrukt‘-Vorwurf zur Pressefreiheit verschob).
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Meine eigenen juristischen Bemühungen (ich hatte mich auf meine Verbots-Betroffenheit als LeserIn und AutorIn von linksunten berufen) vor dem Bundesverwaltungsgericht scheiterten aber auch – und einer der beiden Versuche auch schon vor dem 16.01.2020 (= Datum der Erstveröffentlichung des linksunten-Archivs):
- mein Antrag vom 09.08.2020 (nicht veröffentlicht)
- der Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts vom 23.10.2019 dazu
- mein Antrag vom 13.11.2020
- der Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts vom 13.05.2020 dazu
- der Beschluß des Bundesverwaltungsgericht vom 26.06.2020 zu meiner sog. Gehörsrüge (nicht veröffentlicht) gegen den vorgenannten Beschluß.
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Während ich mich – wie gesagt – bemühte, den Szene-Friedens-Preis zu gewinnen, wurde ich aber im Herbst 2019 von einer Veranstaltung, zu der ich schon als ReferentIn eingeladen war, wieder ausgeladen, weil sich eine Person aus dem AnwältInnen-Team der VerbotsadressatInnen weigerte, neben mir aufs Podium zu setzen. Daß sich das veranstaltende Grüppchen für den/die VertreterIn der direkt Betroffenen und gegen mich entschied, ist völlig okay. Aber wenn ich nicht so dickfellig wäre, wie ich bin, dann hätte ich einen guten Grund gehabt, nun auch persönlich über die VerbotsadressatInnen und deren AnwältInnen verärgert zu sein (und nicht nur deren Reaktion auf das Verbot für untauglich zu halten). (Es wurde sogar versucht, mir, Achim Schill und Peter Nowak vorzuschreiben, zu welchen Themen wir bei der Veranstaltung aus dem Publikum heraus etwas sagen dürfen und zu welchen nicht. Peter und ich hielten uns brav dran; Achim, der als Ex-Trotzkist nicht auf Szene-Befindlichkeiten Rücksicht nehmen mußte, hielt sich nicht dran. Das begeisterte mich zwar nicht [wenn, dann hätte ich mich trauen 😉 müssen]; aber ist ja sein Bier.)
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Auch wenn ich der Überzeugung bin, daß sowohl meine namentliche Spiegelung des Archivs als auch die – anonyme – ursprüngliche Archiv-Veröffentlichung strafrechtlich unproblematisch sind, bin ich nicht naiv: Mir war also klar, daß juristische Risiken auf dem Spiel stehen.
Diese waren aber vor dem BVerwG-Urteil vom 29.01.2020 geringer als danach:- Vor dem Urteil konnte es um § 20 Absatz 1 Satz 1 Vereinsgesetz gehen (Strafrahmen-Obergrenze: 1 Jahr Knast).
- Nach dem Urteil konnte es um § 85 Absatz 2, 86, 86a Strafgesetzbuch gehen (Strafrahmen-Obergrenze: 3 Jahr Knast).
Also: Falls ich einen Grund hatte, meine Szene-appeacement-Politik aufzugeben und das Archiv eigenmächtig zu veröffentlichen, dann Ende 2019 / Anfang 2020!
Zu betonen ist noch mal (ich schrieb darüber schon anderer Stelle): Für die VerbotsadressatInnen wäre es dagegen keinesfalls rational gewesen, von August 2017 bis Januar 2020 stillzuhalten und dann kurz vor dem Urteil des Bundesverwaltungsgericht das Archiv zu veröffentlichen: Sie hofften ja wahrscheinlich auf einen Erfolg ihrer Klage – und wäre die Klage erfolgreich gewesen, dann hätte nicht nur das Archiv durch Dritte veröffentlicht werden dürfen (dafür bedurfte es keines Erfolgs vor dem BVerwG), sondern auch der laufende Betrieb von linksunten.indymedia durch den alten BetreiberInnenkreis hätte wieder aufgenommen werden dürfen.
Für die VerbotsadressatInnen, die das BMI und Staatsanwalt Graulich für maßgebliche Mitglieder des alten BetreiberInnenkreises halten, wäre es rational gewesen, auch noch vom 16. bis 29. Januar stillzuhalten und dann am 29. Januar – im Erfolgsfalle – die Sektkorken knallen zu lassen, aber nicht kurz vorher eine – vielleicht bald überflüssige – eventuelle Straftat zu begehen.
Zu dem DDOS-Schutz
Zu diesem Punkt kann ich leider nicht ganz so genau antworten, wie auf den ersten, ohne mich juristisch vielleicht selbst zu belasten: Ich kenne nämlich keine andere Webseite als die alte linksunten-Webseite, die die Software Deflect als Schutz gegen DDOS-Angriffe verwendet. Ich kann also nicht an einer unverfänglichen Webseite demonstrieren, ob bzw. daß HTTrack in der Lage ist, Deflect zu überwinden. Aber ich hatte am Jahresanfang Prof. Dr. Matthias Wählisch vom Institut für Systemarchitektur an der Fakultät-Informatik der Technischen Universität Dresden nach Deflect und HTTrack gefragt:
„Was [in Durchsuchungsbeschlüssen des Amtsgerichts Karlsruhe] mit ‚besonders gesicherte Internetseite‘ und ‚sich regelmäßigen Hackerangriffen erwehren mußte‘ gemeint war, wurde in dem Amtsgerichts-Beschluß nicht genauer ausgeführt. Zu vermuten steht aber, daß die Software Deflect gemeint war, mit der die Webseite ab Mitte Juni oder ab irgendwann im Juli 2016 bis in den Nachmittag / Abend des Verbotstages hinein gegen DDOS-Angriffe gesichert wurde.
Deflect hatte als unerfreulichen Nebeneffekt, daß archive.org in dieser Zeit daran gehindert wurde, Kopien von linksunten.indymedia.org zu erstellen. Bleibt aber die Frage, ob Deflect auch ein Hindernis für die von mir erwähnte Software HTTrack (siehe z.B.: httrack.com, heise.de und chip.de) ist.
Speziell zu HTTrack konnte Prof. Wählisch nichts sagen, aber er kenne mehrere derartige Programm zum Herunterladen von Webseiten auf den eigenen Rechner und gehe nicht davon aus, daß Deflect ein Hindernis für derartige Programme sei, insbesondere wenn die Webseite zu dem Zeitpunkt nicht angegriffen wurde.“
(http://blogs.taz.de/theorie-praxis/files/2024/02/Loeschen_von_Websites.pdf, S. 18)
Dieser Artikel als .pdf-Datei:
http://blogs.taz.de/theorie-praxis/files/2024/06/Der_StA_u_d_nicht-gestellten_Fragen.pdf (4 Seiten).
1 Siehe zu der nämlichen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts: Das Leipziger Landdogma und der wirkliche Artikel 9 Absatz 1 Grundgesetz, in: de.indymedia vom 30.01.2020; https://de.indymedia.org/sites/default/files/2020/01/Leipziger_Landdogma_0.pdf.