vonDetlef Georgia Schulze 15.12.2023

Theorie als Praxis

Hier bloggt Detlef Georgia Schulze über theoretische Aspekte des Politischen.

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Am Jahresanfang hatten Haussuchungen beim freien Freiburger Sender Radio Dreyeckland und zwei seiner Mitarbeiter für Aufsehen gesorgt. Anlaß war, daß in einem Artikel auf der Webseite von Radio Dreyeckland der wahre Satz, Im Internet findet sich linksunten.indymedia.org als Archivseite“, steht. Die Staatsanwaltschaft Karlsruhe sieht in dem Satz die Unterstützung einer verbotene Vereinigung (§ 85 Absatz 2 StGB1). So­fern damit überhaupt irgendetwas nicht völlig Absurdes gemeint ist, muß mit dieser Ver­einigung der ehemalige HerausgeberInnenkreis der internet-Zeitung linksunten.indyme­dia gemeint sein. Diese internet-Zeitung erscheint freilich in Folge dessen, daß der Staat das Verbot des alten HerausgeberInnenkreises nicht nur juristisch verfügen konn­te, sondern es auch befolgt wurde – und die ganze (eingeschüchterte) linke, linkslibera­le und linksradikale Mann-, Frau- und *-schaft darauf verzichtete, einen neuen Heraus­geberInnenkreis zu bilden und das Zeitungsprojekt fortzusetzen – seit 2017 nicht mehr.

Im Januar 2020 wurde immerhin das Archiv der internet-Zeitung – mit neuem Vorwort und zusätzlichen Recherche-Werkzeugen – (wieder)veröffentlicht. Ich selbst hatte dieses Archiv damals gespiegelt, was mir ein – vom Landeskriminalamt Berlin geführtes – Ermittlungsverfahren einbrachte, das aber bisher nur vor sich hinplätschert. Daß der Journalist Fabian Kienert im Sommer 2020 in seinem Artikel auf der RDL-Webseite bloß die Adresse des Original-Archivs nannte und als Hyperlink aktivierte, rief dagegen die Staatsanwaltschaft Karlsruhe auf den Plan. Diese bleibt seitdem am Ball und spielt mit harten Bandagen. Unter ande­rem erwirkte sie beim Amtsgerichts Karlsruhe die Beschlüsse für die eingangs genann­ten Haussuchungen.

Dagegen legten – nach Vollstreckung der (bis dahin unbekannt gebliebenen) Durchsu­chungsbeschlüsse – die Betroffenen beim Landgericht Karlsruhe erfolgreich Beschwer­de ein. Dagegen wiederum wandte sich die Staatsanwaltschaft Karlsruhe mit Trick 17 an das Oberlandesgericht Stuttgart.

Eigentlich bestimmt § 310 StPO klipp und klar:

„(1) Beschlüsse, die von dem Landgericht oder von dem nach § 120 Abs. 3 des Ge­richtsverfassungsgesetzes zuständigen Oberlandesgericht auf die Beschwerde hin erlassen worden sind, können durch weitere Beschwerde angefochten werden, wenn sie
1. eine Verhaftung,
2. eine einstweilige Unterbringung oder
3. einen Vermögensarrest nach § 111e über einen Betrag von mehr als 20.000 Euro
betreffen.
(2) Im übrigen findet eine weitere Anfechtung der auf eine Beschwerde ergangenen Entscheidungen nicht statt.“
(https://www.gesetze-im-internet.de/stpo/__310.html)

Da Haussuchungen weder eine Verhaftung noch eine einstweilige Unterbringung noch ein Vermögensarrest sind, kommt es also auf Absatz 2 an: „eine weitere Anfechtung der auf eine Beschwerde ergangenen Entscheidungen [findet] nicht statt“. Also: Durchsu­chungsbeschluß – Beschwerde – Entscheidung über die Beschwerde. Ende der Sense.

Die Staatsanwaltschaft Karlsruhe wandte sich trotzdem an das Oberlandesgericht Stutt­gart. Soweit dies die Entscheidung des Landgerichts Karlsruhe über die Beschwerden des Freiburger Radiosenders und des ehemaligen Ko-Beschuldigten von Kienert, dem zweiten persönlich Durchsuchungs-Betroffenen im Januar, unbelangt, scheiterte die Staatsanwaltschaft auch vor dem Oberlandesgericht Stuttgart. Das OLG sah den Phan­tasie-Rechtsbehelf der Staatsanwaltschaft – unter zutreffendem Hinweis auf § 310 Ab­satz 2 StPO – bereits als unstatthaft an (sodaß sich insoweit die Prüfung dessen Be­gründetheit erübrigte).

Dagegen soll im Falle Kienert alles anders sein – und vielmehr § 304 StPO anwendbar sein. Der dortige Absatz 1 lautet:

„Die Beschwerde ist gegen alle von den Gerichten im ersten Rechtszug oder im Be­rufungsverfahren erlassenen Beschlüsse und gegen die Verfügungen des Vorsitzen­den, des Richters im Vorverfahren und eines beauftragten oder ersuchten Richters zulässig, soweit das Gesetz sie nicht ausdrücklich einer Anfechtung entzieht.“
(https://www.gesetze-im-internet.de/stpo/__304.html)

Nun ist zwar das Landgericht Karlsruhe, das als Beschwerdeinstanz über die Durchsu­chungsbeschlüsse des Amtsgerichts Karlsruhe entschieden hatte, inzwischen das Ge­richt „im ersten Rechtszug“ des strafrechtlichen Hauptverfahrens gegen Kienert – aber das ändert nichts daran, daß es wegen der Durchsuchung bei Kienert bereits einen (amtsgerichtlichen) Durchsuchungsbeschluß, eine Beschwerde und eine (landgerichtli­che) Beschwerdeentscheidung gab – und eine dritte Instanz im Beschwerdeverfahren nicht vorgesehen ist. (Daß es zwar in anderen Konstellationen [1.] erstinstanzliche land­gerichtliche Beschlüsse und [2.] oberlandesgerichtliche Beschwerdeentscheidungen gibt, ist zwar wahr, aber ändert nichts daran, daß in Beschwerdeverfahren keine drei In­stanzen vorgesehen sind.)

Gemach, Gemach – meint das Oberlandesgericht Stuttgart: Da inzwischen das straf­rechtliche Hauptverfahren gegen Kienert eröffnet wurde, müßten die Beschwerde und die Beschwerdeentscheidung in etwas anderes als eine Beschwerde und eine Be­schwerdeentscheidung umgedeutet werden – und deshalb dürfe es sich selbst einmi­schen.

Staatsanwaltschaft Karlsruhe legte einen unstatthaften Rechtsbehelf ein

Die vollständige Entscheidung des Oberlandesgericht wollte mir dieses bisher zwar nicht zur Verfügung stellen (was wahrscheinlich auch noch juristische Folgen haben wird, falls ich Zeit dafür finde) – aber immerhin hat mir dessen Pressestelle am 29.11.2023 die Passage zur Zuständigkeitsfrage mitgeteilt:

Für die Frage, ob eine Beschwerdeentscheidung vorliegt, oder eine Entscheidung des erstinstanzlichen Gerichts, ist – so der 1. Strafsenat des Gerichts in seinem hier interessierenden Beschluß – „allein entscheidend, ob die Entscheidung vom 22. Au­gust 2023 gem. § 310 Abs. 1 StPO ‚auf die Beschwerde hin‘ erlassen wurde, also denselben Gegenstand hat wie die angefochtene Entscheidung, hier die des Amts­gerichts Karlsruhe. Dies ist hinsichtlich der Beschwerden des früheren Mitbeschul­digten und der Drittbeteiligten [= Radio Dreyeckland] der Fall, denn die Beschwer­den der nicht von der Anklage betroffenen Beteiligten wurden – anders als die Be­schwerde des Angeklagten – nicht durch die Anklageerhebung prozessual überholt. Auch die Verbindung mit der als Antrag des Angeklagten in seinem Strafverfahren anzusehenden früheren Beschwerde änderte am Gegenstand der Beschwerden des Mitbeschuldigten und der Drittbeteiligten nichts. Eine weitere Beschwerde ge­gen diese Beschwerdeentscheidung ist deshalb vorliegend nicht statthaft.

Die Beschwerde gegen diese Entscheidung (gemeint ist hier die Entscheidung des LG Karlsruhe betreffenden die Durchsuchungsanordnung des Angeklagten, nach der Sie sich näher erkundigen) ist nicht nach § 310 Abs. 1 StPO ausgeschlossen. Die früheren Beschwerden des Angeklagten sind mit Anklagerhebung als An­trag an das erstinstanzliche Gericht zu deuten. Die Verbindung mit den anhängi­gen Beschwerden machte den Antrag nicht wieder zu einer Beschwerde, ebenso wenig wie die Behandlung des Antrags durch die Kammer, die dem Wortlaut des Beschlusses nach eindeutig als Beschwerdekammer über den Antrag des Ange­klagten entscheiden wollte. Dies ist nicht maßgebend für die Frage, ob eine Be­schwerdeentscheidung tatsächlich erfolgt ist. Maßgeblich ist, ob der Beschwerdege­genstand identisch ist, was nicht der Fall ist. Denn diese Beschwerde war durch die Anklageerhebung prozessual überholt und nunmehr als Antrag an das erstinstanzli­che Gericht anzusehen (s.o.). Damit hat sich der Beschwerdegegenstand geändert und das erstinstanzliche Gericht war mit dem entsprechenden Instanzenzug für die Entscheidung zuständig (vgl. KG Berlin, NStZ 2007, 422 m.w.N.). Die Entscheidung der Kammer vom 22. August 2023 ist deshalb hinsichtlich des Angeklagten keine ‚auf die Beschwerde hin‘ ergangene Entscheidung.“
(fette Hv. hinzugefügt)

Eine tatsächliche Beschwerde ‚muß‘ also in etwas anderes als eine Beschwerde umge­deutet werden, damit das Oberlandesgericht Stuttgart zuständig ist, obwohl es eigent­lich nicht zuständig ist… – zumindest eine etwas irritierende These, die ich aber noch keine Gelegenheit hatte, genauer zu untersuchen. Auch die Entscheidung des Berliner Kammergerichts in der Neuen Zeitschrift für Strafrecht habe ich mir noch nicht angese­hen. – Insofern will ich mich mit meinen Zweifeln an der Zuständigkeit des Oberlandes­gerichts Stuttgart nicht zu sehr aus dem Fenster hängen – aber ich stellte der OLG-Pressestelle am 29.11. drei Fragen zu folgendem Satz in dem OLG-Beschluß:

„Die früheren Beschwerden des Angeklagten sind mit Anklagerhebung als Antrag an das erstinstanzliche Gericht zu deuten.“

Meine drei Fragen waren:

„Was für Anträge sollen das denn sein? – Also: Was soll die Rechtsgrundlage für die Statthaftigkeit und Zulässigkeit der umgedeuteten (!) Anträge sein?
Ist nicht die Beschwerde das einzige statthafte Rechtsmittel gegen einen Durchsu­chungsbeschluß – und folglich die Entscheidung auch eine Beschwerdeentschei­dung (egal, ob das Hauptverfahren inzwischen eröffnet wurde oder nicht) und folg­lich die weitere Beschwerde von § 310 StGB ausgeschlossen?“

Eine Antwort bekam ich nicht (ist schon klar, daß die Gerichte auf Presseanfrage nicht ihre Entscheidungsbegründungen ergänzen…).

Wie dem auch sei – nachdem sich das OLG insoweit für zuständig erklärt hat, gab es dem Rechtsbehelf der Staatsanwaltschaft Stuttgart insoweit statt.

Verfassungsbeschwerde eingelegt

Dagegen wendet sich nun Kollege Fabian Kienert mit Verfassungsbeschwerde – womit die Sache wieder nach Karlsruhe wandert (was wohl die ganzen JuristInnen in Karlsru­he bei etwaigen Kneipenbegegnungen zu besprechen haben… – aber kleine Amtsrich­terInnen sitzen bestimmt nicht in denselben Kneipen wie die Damen und Herren in rot).

Sowohl Radio Dreyeckland als auch die – ideelle (und vermutlich auch finanzielle) Un­terstützung leistende Gesellschaft für Freiheitsrecht – haben dazu heute Presseerklä­rungen veröffentlicht:

https://rdl.de/beitrag/verfassungsbeschwerde-f-r-die-pressefreiheit

und

https://freiheitsrechte.org/ueber-die-gff/presse/pressemitteilungen-der-gesellschaft-fur-freiheitsrechte/pm-vb-rdl.

Viel zur genauen juristischen Argumentation der Verfassungsbeschwerde ergibt sich daraus nicht – aber auf alle Fälle ist David Werdermann von der Gesellschaft für Frei­heitsrecht zuzustimmen: „Die Durchsuchungsbeschlüsse waren von Anfang an rechts­widrig und ein offener Angriff auf die Pressefreiheit. Die Presse muss kritisch […] be­richten dürfen – dazu gehört auch die Verlinkung von relevanten Seiten.“

Worum wird es nun in dem Verfassungsbeschwerde-Verfahren gehen? – Genau wissen wir es nicht, weil es (wie gesagt) in den Presseerklärungen nicht steht.

Meines Erachtens sollte es um folgende Fragen gehen:

  • Hat das Oberlandesgericht Stuttgart das Recht von Kollegen Kienert auf den „ge­setzlichen Richter“ (Artikel 101 Absatz 1 Satz 2 Grundgesetz: „Niemand darf sei­nem gesetzlichen Richter entzogen werden.“) verletzt? Hat sich das Oberlandes­gericht Stuttgart, in dem es seine Zuständigkeit bejahte über die gesetzliche Zu­ständigkeit des Landgerichts Karlsruhe hinweggesetzt? (Wie gesagt: Ich habe die Frage noch nicht untersucht, aber tendiere intuitiv zu einer bejahenden Ant­wort auf die zuletzt gestellte Frage.)

     

  • Fällt Fabian Kienerts umstrittener Artikel in den Normbereich von Artikel 5 Absatz 1 Grundgesetz2? Ja:
    • Zweifelsohne stellt der Satz, Im Internet findet sich linksunten.indymedia.org als Archivseite“, eine „Berichterstattung“ eines Rundfunksenders über eine Tatsache dar. Er fällt damit unter Artikel 5 Absatz 1 Satz 2 Halbsatz 2: „die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleis­tet“.
    • Weitere Sätze in Kienerts Artikel sind ebenfalls Berichterstattung über Tatsa­chen (oder zumindest Tatsachenbehauptungen3). Manche Formulierungen mögen auch Meinungselemente enthalten und fallen deshalb in den Normbe­reich von Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 Halbsatz 1: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten“.

     

  • Nun wäre das „freiheitliche“ (statt: liberale) Deutschland nicht das „freiheitliche“ Deutschland, wenn es unbeschränkt zulässig wäre, über Tatsachen zu berichten und Meinungen zu äußern. Diesem anti-liberalen deutschen „Freiheitlichkeits“-Fetisch trägt Artikel 5 Absatz 2 Grundgesetz Rechnung: „Diese Rechte [also: Die in Artikel 5 Absatz 1 genannten Rechte] finden ihre Schranken in den Vorschrif­ten der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.“ (Vergleiche die Rechtspre­chung des US Supreme Court zu dem ersten Zusatz zur US-Verfassung [free speech] mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Artikel 5 Ab­satz 1 und 2 Grundgesetz und lerne, daß die BRD – entgegen der Legende des sozialdemokratischen Historikers Heinrich August Winkler [Der lange Weg nach Westen] – nicht nur geographisch immer noch nicht „im Westen“ liegt…)
    • Immerhin behaupten auch die Staatsanwaltschaft Karlsruhe und das Oberlan­desgericht Stuttgart nicht, Kienerts Artikel hätte die Jugend gefährdet oder ir­gendwessen persönliche Ehre verletzt.
    • Bleibt die Frage: Ist § 85 Absatz 2 StGB ein „allgemeines“4 Gesetz im Sinne von Artikel 5 Absatz 2 Grundgesetz, wenn er so interpretiert wird, daß unter den Begriff der Unterstützung einer verbotenen Vereinigung auch das Veröf­fentlichen wahrer Sätze fällt (oder zumindest fallen kann) oder stellt § 85 Ab­satz 2 StGB, wenn er so interpretiert wird, wie es die Staatsanwaltschaft Karlsruhe und das Oberlandesgericht Stuttgart machen, einen frontalen An­griff auf die Grundrechte aus Artikel 5 Absatz 1 Grundgesetz dar – handelt es sich dann also vielmehr um ein i.S.v. Artikel 5 Absatz 2 Grundgesetz ‚beson­deres‘5 und daher insoweit verfassungswidriges Gesetz?

      Meines Erachtens ist die Frage klar im letzteren Sinne zu beantworten – aber das Bundesverfassungsgericht hat einen sehr weiten Begriff von „allgemei­nen Gesetze“ und beschäftigt sich in Artikel 5-Sachen viel mit – dem wirkli­chen Artikel 5 Grundgesetz exzentrischen – „Wechselwirkungs“-Fragen6.

Es wird also ein spannendes Verfassungsbeschwerde-Verfahren werden, dessen Aus­gang keinesfalls sicher ist.

Wie ist eigentlich der Stand des strafrechtlichen Hauptverfahrens gegen Kienert?

Das strafrechtliche Hauptverfahren gegen Kienert ist im übrigen gerade – haarscharf – an komplizierten Verjährungsfragen vorbeigeschrammt: Vorbeigeschrammt ist es, weil das Landgericht Karlsruhe am 29.11.2023 einen Sachverständigen für „IT Forensik“ beauftragt hat. Dazu stellte ich am Donnerstag der Pressestelle des Landgerichts fol­gende Fragen, die leider noch nicht beantwortet wurden:

„Was soll der Gutachter herausfinden oder überprüfen?
Bezieht soll sich das Gutachten auf eines oder mehrere der bei Kienert beschlag­nahmten Speichermedien oder auf Speichermedien, die am 2.8.7 beschlagnahmt wurden, oder auf noch etwas anderes?
Wurde dem Sachverständigen eine Frist gesetzt, bis zu deren Ablauf er das Gutach­ten zu erstellen soll?
Wurde der Gutachter von Amts wegen von der Kammer beauftragt oder auf Antrag oder Anregung der Verteidigung oder Staatsanwaltschaft?“

Und was hat es nun mit den „komplizierten Verjährungsfragen“ auf sich? Durch die Beauftragung des Sachverständigen wurde in dem Verfahren ein weiteres Mal die Verjährungsfrist unterbrochen. § 78c Absatz 1 Satz 1 Nr. 3 Strafgesetzbuch bestimmt:

„Die Verjährung wird unterbrochen durch
1. […]
2. […]
3. jede Beauftragung eines Sachverständigen durch den Richter oder Staatsanwalt, wenn vorher der Beschuldigte vernommen oder ihm die Einleitung des Ermittlungs­verfahrens bekanntgegeben worden ist,
4. […]
12. […].“
(https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__78c.html)

Soweit, so klar. Klar ist auch, daß die ‚normale‘ Verjährungsfrist längst nicht abgelaufen ist. Allerdings gibt es – als Ausnahme – auch eine kürzere, speziell medienrechtliche Verjährungsfrist.

§ 24 Absatz 1 Landespressegesetz Baden-Württemberg (LPG BaWü) bestimmt:

„(1) Die Verfolgung von Straftaten,
1. die durch die Veröffentlichung oder Verbreitung von Druckwerken strafbaren In­halts begangen werden oder
2. die sonst den Tatbestand einer Strafbestimmung dieses Gesetzes verwirklichen,
verjährt bei Verbrechen in einem Jahr, bei Vergehen in sechs Monaten. Die Vor­schrift findet keine Anwendung auf die in § 18 Abs. 1 bezeichneten Verbrechen und auf die in § 130 Abs. 2 bis 4, §§ 131 sowie 184a bis 184c des Strafgesetzbuches genannten Vergehen.“
(https://www.landesrecht-bw.de/perma?d=jlr-PresseGBWV15P24)

Da die Kienert vorgeworfene Straftat ein „Vergehen“ (und kein „Verbrechen“) ist, beträgt die kurze Verjährungsfrist also, wenn sie anzuwenden wäre, ein halbes Jahr. Vor der Beauftragung des IT-Sachverständigen erfolgte die letzte Unterbrechung der Verjährung durch die Eröffnung des strafrechtlichen Hauptverfahrens gegen Kienert (aka Zulassung der Anklage). Das war am 12. Juni; ein halbes Jahr später war Dienstag, 12. Dezember. Dann wäre also Ende der Sense gewesen.

Nun ist allerdings mindestens sehr fraglich, ob Webseiten „Druckwerke“ sind. Denn § 7 Absatz 1 LPG BaWü bestimmt:

„Druckwerke im Sinne dieses Gesetzes sind alle mittels der Buchdruckerpresse oder eines sonstigen zur Massenherstellung geeigneten Vervielfältigungsverfahrens hergestellten und zur Verbreitung bestimmten Schriften, besprochenen Tonträger, bildlichen Darstellungen mit und ohne Schrift, Bildträger und Musikalien mit Text oder Erläuterungen.“
(https://www.landesrecht-bw.de/perma?d=jlr-PresseGBWV4P7)

Die Inhalte von Webseiten werden aber von ihren AnbieterInnen (oder eher: Telekom­munikationsunternehmen) nicht ‚verköpert‘ (z.B. auf USB-Stick oder CD-ROM), sondern elektronisch (unkörperlich) verbreitet.

Wie dem auch sei – es gibt auch noch einen § 25 LPG BaWü (es herrscht kein Mangel an Paragraphen und Artikeln, die im Fall „Kienert“ relevant sind):

„Für die Veranstaltung von Rundfunk durch Landesrundfunkanstalten gelten die §§ 1, 3, 20 Abs. 1 und 2 Nr. 1 sowie §§ 23, 24 Abs. 1 und 3 entsprechend. § 23 gilt mit folgender Maßgabe:
1. Zur Verweigerung des Zeugnisses sind berechtigt Intendanten, Programm- und Landessenderdirektoren, Redakteure und andere, die bei der Vorbereitung oder Durchführung einer Rundfunksendung berufsmäßig mitgewirkt haben;
2. Wenn der Verfasser, der Einsender oder der Gewährsmann selbst im Rundfunk spricht, darf das Zeugnis über seine Person nicht verweigert werden.
Staatsvertragliche und sonstige rundfunkrechtliche Regelungen bleiben unberührt.“
(https://www.landesrecht-bw.de/perma?d=jlr-PresseGBWV13P25; Hv. hinzugefügt)

Aber sind nun „Landesrundfunkanstalten“ ausschließlich die jeweiligen öffentlich-rechtlichen Rundfunksender oder auch private und freie Sender? –

Eine dritte Möglichkeit, die in Betracht kommt (die aber auch ungewiss ist): Auch die elektronische Presse ([bestimmte] Webseiten) und nicht-öffentlich-rechtliche Rundfunk­sender und deren MitarbeiterInnen seien von Verfassungs wegen durch die kurze Ver­jährungsfrist zu schützen. – Juristisches Argument? Fraglich. Politisch wünschenswert? Ja, schon.

Das Amtsgericht Karlsruhe hatte in seinen RDL-Durchsuchungsbeschlüssen seinerzeit die Frage offengelassen (und offenlassen können), ob auf den Fall „Radio Dreyeckland“ die kurze presserechtliche Verjährungsfrist anzuwenden ist, da auch die kurze Verjäh­rungsfrist noch nicht abgelaufen war. Auch das Landgericht Karlsruhe ist jetzt – durch die Beauftragung des IT-Forensikers – glücklich an der Notwendigkeit, sich mit der Ver­jährungsfrage beschäftigen zu müssen, vorbeigeschrammt. –

Ein Termin für die mündliche Verhandlung gegen den Kollegen Kienert ist jedenfalls noch nicht angesetzt – die Sache wird uns also noch einige Zeit beschäftigen…


1 § 85 Absatz 1 und 2 lauten: „(1) Wer als Rädelsführer oder Hintermann im räumlichen Geltungsbereich dieses Ge­setzes den organisatorischen Zusammenhalt
1. einer Partei oder Vereinigung, von der im Verfahren nach § 33 Abs. 3 des Parteiengesetzes unanfechtbar festge­stellt ist, daß sie Ersatzorganisation einer verbotenen Partei ist, oder
2. einer Vereinigung, die unanfechtbar verboten ist, weil sie sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richtet, oder von der unanfechtbar festgestellt ist, daß sie Ersatzorganisation einer solchen verbotenen Vereinigung ist,
aufrechterhält, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Der Versuch ist strafbar.
(2) Wer sich in einer Partei oder Vereinigung der in Absatz 1 bezeichneten Art als Mitglied betätigt oder wer ihren or­ganisatorischen Zusammenhalt oder ihre weitere Betätigung unterstützt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“ (https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__85.html; meine Hv.)

2 Artikel 5 Absatz 1 und 2 lauten: „(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt. (2) Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.“ (https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_5.html)

3 Hinsichtlich eines Details hatte sich Kienert vertan: „Im November 2020 hatte der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg schon die Durchsuchung der KTS im August 2017 im Zuge des konstruierten Vereins Indymedia Links­unten für rechtswidrig erklärt.“ Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts stammt in Wirklichkeit schon aus dem Ok­tober 2020 (http://lrbw.juris.de/cgi-bin/laender_rechtsprechung/document.py?Gericht=bw&GerichtAuswahl=VGH+Baden-W%FCrttemberg&Art=en&sid=a0f0b9e0f6a970d5c8e8a03140d339dd&nr=32580&pos=3&anz=8).

4 „die ‚allgemeinen Gesetze‘ [streichen] am ‚Normbereich‘ des Grundrechts, d. h. an der in ihnen erst rechtlich aufge­bauten, festgemachten und gesicherten Interessenstruktur (in Art. 5 GG dem ‚Interesse‘ am demokratischen Verlauf des politischen Prozesses), vorbei[…]“; auch die konkrete Anwendung dieser ‚allgemeinen Gesetze‘ [darf] keine In­gerenz in die geschützte, […] Interessenstruktur darstellen“ (Ridder, Die soziale Ordnung des Grundgesetzes, 1975 [http://10.1007/978-3-322-84231-2], 69; wieder abgedruckt, in: ders., Gesammelte Schriften hrsg. v. Deiseroth/Derleder/Koch/Steinmeier, 2010, 84; Hv. i.O.).

5 „Es hat sich eine interpretatorische Grundlinie zu diesem Begriff herausgebildet, nach der als ‚besondere‘ Gesetze solche Gesetze bezeichnet werden, die gegen das Schutzgut des Grundrechts ‚als solches‘ gerichtet sind. Ein Bei­spiel hierfür wäre ein Gesetz, das eben das Äußern von Meinungen unter Strafe stellt.“ (ebd., S. 76 bzw. ?) Ein ande­res Beispiel dafür ist ein Gesetz, das Berichterstattung unter Strafe stellt; solche nicht-allgemeinen Gesetze kön­nen, sofern überhaupt, nur aufgrund der zweiten und/oder dritten Schranke in Artikel 5 Absatz 2 Grundgesetz verfassungsgemäß sein.
Vgl. dazu das Plädoyer von Ladeur (Meinungsfreiheit, Ehrenschutz und die Veränderung der Öffentlichkeit in der Massendemokratie, in: Archiv für Presserecht 1993, 531 – 536 [531]) für eine „Konturierung der Schranken im Sinne von Art. 5 Abs. 2 GG“ – also für ein Ernstnehmen der Schranken-Systematik der genannten Norm: Normen im Sinne der zweiten und dritten Schranke sind gerade keine allgemeinen Gesetze.

6 Das Bundesverfassungsgericht ist der – verwegenen – Ansicht, der Begriff der „allgemeinen Gesetze“ in Artikel 5 Absatz 2 Grundgesetz sei sehr weit; sie müßten dann allerdings „ihrerseits im Lichte der Bedeutung dieses Grund­rechts gesehen und so interpretiert werden, daß der besondere Wertgehalt dieses Rechts, der in der freiheitlichen Demokratie zu einer grundsätzlichen Vermutung für die Freiheit der Rede in allen Bereichen, namentlich aber im öf­fentlichen Leben, führen muß, auf jeden Fall gewahrt bleibt. Die gegenseitige Beziehung zwischen Grundrecht und ‚allgemeinem Gesetz‘ ist also nicht als einseitige Beschränkung der Geltungskraft des Grundrechts durch die ‚allge­meinen Gesetze‘ aufzufassen; es findet vielmehr eine Wechselwirkung in dem Sinne statt, daß die ‚allgemeinen Ge­setze‘ zwar dem Wortlaut nach dem Grundrecht Schranken setzen, ihrerseits aber aus der Erkenntnis der wertset­zenden Bedeutung dieses Grundrechts im freiheitlichen demokratischen Staat ausgelegt und so in ihrer das Grund­recht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden müssen.“ (ebd., 208, DFR-Tz. 28) – Kurz gesagt: „Freiheitliche“ Schwrubbel-Jurisprudenz – Ergebnis immer so, wie es im „Einzelfall“ in den Kram paßt.

7 Am 2. August 2023 fanden Haussuchungen bei Mitgliedern des alten HerausgeberInnekreises von linksunten.indy­media statt, die verdächtigt werden, ihren vormaligen „organisatorischen Zusammenhalt“ aufrechtzuerhalten.

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https://blogs.taz.de/theorie-praxis/verfassungsbeschwerde-eingereicht-strafverfahren-weiter-verzoegert/

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