vonutopiensucht 23.12.2020

Utopiensucht

Alltagsbanalität trifft auf sprachliche Vielfalt. Und wie Achtsamkeit der Gegenwart die Socken auszieht.

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Eigentlich wollte ich ja einen ellenlangen, informativen Text über Corona und Impfungen schreiben…

Beim Recherchieren hab ich (fast) jeden neuen Text aus den größeren deutschen und britischen Medien als Lesezeichen gespeichert und tatsächlich auch einige davon gelesen. Und gesehen: Hey, ein paar Menschen schreiben schon genau das, was ich auch schreiben wollte. Also muss ich das ja gar nicht mehr selbst tun und kann über anderes schreiben und weiterverweisen (z.B. über die Verflechtungen von Klimakrise und Pandemien und den dringend nötigen Systemwechsel, oder auch: über Geschichte und Realitäten von geheimen Mächten und Verschwörungstheorien).

Und beim noch genaueren recherchieren finde ich etliche, frei zugängliche wissenschaftliche Studien zu den neuen Impfstoffen. Einfach mal ausprobieren: Hyperlinks zu den Studien in den Zeitungsartikeln anklicken und einen Abstract lesen. Liest sich erstmal kompliziert, aber eigentlich sind eh nur der erste und der letzte Satz wichtig in so einer Abstract-Zusammenfassung.

Außerdem hab ich im Netz einen Artikel von n-tv gefunden zu den neuen RNA-Impfstoffen, betitelt wie folgt: „Bisher keine schweren Folgen – Wie sicher sind die Turbo-Impfstoffe?“ Mensch beachte das recht unsicher wirkende Wort „bisher“ und das Kunstwort „Turbo-Imfstoffe“. Da können wir schon erraten: n-tv, die sich als Nachrichtensender verkaufen, sind halt von RTL gekauft und machen dann doch eher Entertainment.

Danach hab ich einem Artikel von Spektrum der Wissenschaft gefunden mit im Grunde dem gleichen Inhalt: RNA-Impfstoffe sind neuesten Studien zufolge komplett sicher. Das stand auch so im Artikel von n-tv. Aber Spektrum betitelt das ganze halt so: „Impf-Kampagne: So sicher sind RNA-Impfstoffe“. Das ruft schon ein anderes Gefühl hervor, oder?

Und die wissenschaftliche Studie zur Sicherheit und Wirksamkeit des gerade zugelassen BioNTech/Pfizer-Impfstoffes kann auch jede*r online angucken. Ist etwas aufwendig, aber im Grunde alles da. Kann mensch sich eigentlich echt nicht beschweren, dass ja alles im Geheimen passiere.

Die vielfältige und transparente Zugänglichkeit von wissenschaftlichen Informationen im Netz, gerade zu dieser informationsflutenden Zeit, hat mich sehr positiv überrascht. Auch das Bundesgesundheitsministerium stellt auf ihrer Seite transparent ihre Corona-Strategie und viele weitere Informationen übersichtlich zur Verfügung.

Also schreibe ich jetzt nicht auch noch selber was Informierendes, sondern wieder mal gutes altes Meta-Gelaber. Und finde so Zusammenhänge zwischen meinem Lieblingsthema Klima und Corona und auch zwischen Wissen und Glauben. Ich stelle also mal in den Raum: Ich glaube an die Wissenschaft. Klingt erstmal paradox.

Funktioniert Wissenschaft also auch wie eine Religion, mit dem einen Messias und in Stein gemeißelter Moral und so? Oder aber (Spoiler-Alarm!): Ist sie vielleicht eher etwas Kollektives? Ein faktenbasiertes Gemeinschaftsprojekt?

Wissenschaft bzw. Forschung sei eben keine Meinung, betitelt taz-Chefredakteurin Ulrike Winkelmann ihren Artikel über Coronamythen und Fakten. Sie benennt die Pandemie als ein Kommunikationsproblem, wobei einerseits Mythen produziert werden, aber noch wichtiger: Wobei die Wissenschaftsgemeinde voller Einigkeit und Transparenz wie selten zusammenarbeitet.

Also: Mythen herausfiltern und in der Diskussion darüber werden hoffentlich keine Familien gespalten. Ich könnte und kann die Sache hier nicht besser ausdrücken. Nur anders. Auf meine Art und Weise, als leidenschaftlicher Beobachter des Zeitgeschehens und als Hobby-Utopist, der zu viel Medien konsumiert.

Gerade erst hab ich eine tolle Dokumentation mit dem Titel „Die Welt ist noch zu retten?!“ gesehen. Echt empfehlenswert! Sie stammt aus dem Jahr 2017. Fern scheint diese Zeit – die Präcorona-Ära. Damals, als AsiatInnen noch belächelt wurden fürs Maske tragen. Damals, als es noch fast überall um den Klimawandel ging. Aber meistens leider nur in der Theorie. Im Abstrakten und in fernen Versprechungen. Der Glaube an ein grünes, nachhaltiges Morgen wurde versucht in unser Weltbild von Technik, Wissenschaft, Wohlstand und Arbeit zu integrieren. Morgen, da hat mensch ja noch Zeit…

Oder müssten wir nicht mittlerweile schon dieses Morgen von jenem Damals haben, als der globale Norden sich die Katastrophe nur vorgestellt hat auf seinen etlichen selbstgebastelten Plakaten auf Demonstrationen?

Krass, wie mir das fehlt, alte Pappschilder mit Botschaften zu bemalen und gemeinsam auf die Straße zu gehen. Ja, mich nerven die Beschränkungen auch. Aber Prioritäten?!

Jetzt merkt mensch leider überall gleichzeitig, dass es bei Problemen vor allem erstmal um Menschen und ihre Systeme geht, die diese Probleme haben und damit umgehen lernen müssen. Natur und Zukunft sind als Leitmotive vielleicht zu abstrakt?!

Auf jeden Fall hat mir die gerade erwähnte Doku von John Webster eine menschlichere Perspektive auf den Klimawandel gegeben – mit manchen Gesichtern, die in sibirischen Kohlegruben arbeiten, sowie einfachen Gesichtern von den klimawandel-bedrohten Marshall-Inseln. Allen da voran Kathy Jetnill-Kijiner, die wohl die schönste Rede ever vor einem UN-Publikum gehalten hat – inklusive wundervollstem Gedicht! Ich hab so geheult.

Greta Thunbergs Rede vor der UN letztes Jahr war ähnlich toll, aber eben keine Lyrik! Also dachte ich jetzt auch: Warum nicht mal wieder ein Gedicht schreiben? Ein Lockdown-Weihnachts-Gedicht. Voilà!

Noch nie hab ich so viel gelesen,

so viel Zeitung, so viel Nachrichten, Kopf voller Medien.

Ich vergesse aufzusteh‘n, außer um auf’s Klo zu geh’n.

Ich bleibe sitzen und ich schwitze trotzdem,

denn die Artikel, ihre Wortwahl überzeugt mich

weiterzulesen und zu viele Lesezeichen für später zu speichern.

Viele vergreifen sich auch im Ton, polemisch oder einfach dumm,

manchmal hat die Überschrift gar nichts mit dem Text zu tun.

Dabei ist gerade sie doch so wichtig!

Vielleicht bleibt sie das Einzige, was ich aus dem Text mitnehme,

oder überhaupt durch facebook und co. zu sehen kriege.

Die unsozialen Medien und Amazon und kennen mich eh schon zu gut,

aber was fehlt, ist Substanz, und der Blick über den Tellerrand.

Gerade wichtig zu dieser Zeit, zu diesen Tagen.

Nein, das hier ist kein Weihnachtsgelaber.

Das ist Pandemie-Pragmatismus. Jeah.

Besinnung statt Besinnlichkeit.

Zuhause rumsitzen, lesen, draußen ist es (nicht) kalt.

Weihnachtlichkeit bekommt gerade einen Haufen Realität in die idealisierte Fresse.

Bäm.

Heute geht’s nicht mehr um Geschenke.

Jetzt geht’s um Perspektive, aber bitte eine längere.

Ich lese und glaube dieses Jahr nicht an den Weihnachtsmann,

sondern nur an die Wissenschaft.

Der Rest Unsicherheit aus Artikeln und Studien: kein Grund zur Verschwörung.

Der Raum für Verbesserungen steht allen offen.

Der Raum für Empörung will die Welt lieber abgeschlossen.

Wie geht also nochmal kommunizieren?

Die eigene Sichtweise ist wichtig,

aber auch nicht die Gefühle des Empfängers ignorieren.

Weihnachtlichkeit ist auch nur Idee, kein Muss.

Intuitiv klar, aber praktisch irgendwie doch große Sache.

Besinnlichkeit kommt von Besinnen.

Besinnung darauf, dass wir an etwas Größeres als uns selbst glauben können.

Und das muss auch dieses Jahr nicht unbedingt Geschenke kriegen und schenken sein.

Der DHL-Mensch ist ja schon lange irgendwie der indirekte Weihnachtsmann geworden,

und das im Grunde das ganze Jahr – ist das im Sinne des Erfinders?

Worum geht es nochmal an Weihnachten?

Dieses Jahr geht es ums Ganze.

Hört sich pathetisch an, aber doch schöner als:

Es geht um mich (und meine Verwandten).

Wir sind „Am Ende der Ich-Party“ angekommen,

schreibt auch SPIEGEL-Autor Stephan Fricke jahresrückblickend.

Noch nie hab ich so viel gelesen und Nachrichten geschaut wie im Lockdown.

Ist ja wichtig und interessant, aber auch echt anstrengend,

jetzt mach ich mal paar Tage Pause vom täglichen Alarm.

Und gesellschaftlich können wir nun mal ausprobieren,

ob und wie wir uns ohne „normales“ Weihnachten amüsieren.

In diesem Sinne: Frohen Donnerstag/Freitag/Samstag und alles Liebe!

Euer Kieran

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