vonutopiensucht 05.02.2021

Utopiensucht

Alltagsbanalität trifft auf sprachliche Vielfalt. Und wie Achtsamkeit der Gegenwart die Socken auszieht.

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Seit Ewigkeiten spielte sie mal wieder ein Videospiel: „INSIDE“, vom dänischen Games-Studio PLAYDEAD (2016). Ihr Mitbewohner hatte es ihr nur kurz zeigen wollen, doch innerhalb von ein paar Minuten wurde sie verschlungen.

Im blassen Zwielicht der künstlich beleuchteten Nacht kletterst und schwimmst du durch riesige Hallen, Labore und Kanäle. Du wirst verfolgt, weißt gar nicht warum. Aber du musst einfach weiter. Die Geräusche sind meist nur ein Rauschen, die Räume und Draußenwelten sind stille Gemälde. Und du wirst sterben. Ziemlich oft sogar. Telekinetische Fähigkeiten helfen dir manchmal.

Nach vier Stunden des Rätsel-Lösens im Zwielicht dunkler Sphären taucht sie wieder auf. Sieht den Vollmond aufgehen. Sieht die Nachbarn die Lichter löschen.

Hört den Mitbewohner Zähne putzen. Und sie fragt sich über das Spiel, warum der Protagonist keinen Namen hat. Vielleicht, um etwas Distanz zu dem im Grunde unabwendbar ständig sterbenden Jungen zu wahren?

Ja, dem Jungen. Trotz der einfachen Zeichnung her schon relativ klar ein Junge. Eigentlich sonst so neutral wie möglich gehalten. Aber warum eigentlich nicht ein kleines bisschen neutral mehr, um nicht mehr eindeutig die Figur als Typen auszumachen? Oder warum nicht einfach mal zur Abwechslung eine offensichtlich weibliche Hauptperson ins Spotlight setzen?

Und ständig wird sie von dunklen Gestalten zerfleischt oder von was auch immer zerquetscht. Wäre doch genauso okay. Sonst haben sich die Spielentwickler wirklich um eine umfassende Zugänglichkeit bemüht. Nicht ein Wort ist zu lesen oder zu hören im Verlauf des Spiels. Das gelegentliche Aufstöhnen der Figur wirkt auch nicht zwangsweise männlich. Trotzdem bleibt der Gedanke, dass die Geschichte der männlich geprägten Norm noch längst nicht zu Ende erzählt wurde.

Gegen Ende des Spiels wurde das handelnde (männliche) Wesen immerhin von einem gesichtslosen und gigantischen „Gen-Experiments-Monster“ inhaliert. Auf jeden Fall sinnvoll, keine Namen zu verwenden bei diesem Spiel. Trotzdem ist sie am Ende erleichtert, als das vielarmige und -beinige Wesen endlich herausfindet und herausstürzt aus den Laboren und unendlichen Hallen zu Nadelbäumen und einem Lichtschimmer – in vielleicht so etwas wie Freiheit.

War das vielleicht die ganze Zeit die Aufgabe des Protagonisten gewesen? Das Experiment zu befreien?

Sie kann nicht ganz zufrieden sein. Nach all den Stunden der gelösten Rätsel. War sie verhältnismäßig gut darin? Sie ist zwar schon oft gestorben, aber ihr Mitbewohner meinte, er musste ein paar Rätsel googlen. Sie nicht! Durchhaltevermögen trifft maskierten Stolz vor dessen Vater Herr Selbstrechtfertigung.

Jetzt ist „INSIDE“ vorbei…

Das erste Spiel seit Jahren, das wirklich einen Eindruck auf sie gemacht hat. Die kalte Welt draußen ist dieser Tage besonders kalt. Da hilft nur rauszugehen. Ist ja schließlich Vollmond. Und gerade fängt es zu schneien an. Sie zieht sich ihren Mantel an, nimmt noch den gerade erst geschriebenen Brief an ihre Oma mit, trinkt noch einen kleinen Schluck Rotwein und ist schon aus der Tür, bevor der Mitbewohner mit dem Zähne putzen fertig ist.

Die Straße ist typisch frühe Wochenendnacht. Sie stolpert die Treppe hinunter, ohne – wie immer – das Licht anzuschalten, und dann ist es draußen viel zu hell von all den Laternen. Die Nacht hat hier gar keinen Platz. Sie sieht in eine schicke Dreier-Truppe junger Gesichter, und hofft von wenigstens einer der drei einen Augenaufschlag zu bekommen.

Nichts. Wie sie das vermisst. Die Blicke. Die Offenheit. Aber immerhin waren sie auch nachts spazieren. Wegen des Schnees?

Es ist natürlich auf dem warmen Großstadtboden nur Matsche. Bald kommt sie zu einem Friedhof, und dort ist es deutlich weißer. Das leer-stehende Kaufhaus zu ihrer Linken ist der hellste und unbelebteste Gehweg des ganzen Kiezes. Das Licht der Laternen flackert. Ein leerer, großer Raum, in dem wahrscheinlich mal ein Restaurant war, zeigt seine volle Leblosigkeit. Nur ein paar rote Sicherheitslichter in den Ecken des Raumes. Und das Licht der Laternen flackert. Sie hat das Bedürfnis, sich umzusehen. Da ist natürlich niemand. Warum ist da eigentlich niemand?

Sie schaut nach oben in den Laternenschein, in dem der sich ständig erneuernde Schwarm der Schneeflocken umherwirbelt. Wäre da plötzlich jemand hinter ihr aufgetaucht, sie hätte ihren einsam genussvollen Moment wahrscheinlich aufgegeben. Und wäre wieder stoisch weitergelaufen. Und würde die Person das gleiche Tempo haben wie sie, sie würde sich unwohl fühlen. Sie würde vielleicht die Straßenseite wechseln. Als würde sie das sowieso vorhaben.

Wieso fragt sie sich dann, warum sie gerade allein auf der Straße ist? Könnte vielleicht etwas nicht in Ordnung sein in dieser Verlassenheit? Vielleicht ist gerade etwas passiert. Blaulicht im Hintergrund. Es kommt näher. Und fährt vorbei.

Sie kommt am Park an. Und das Bedürfnis nach Menschennähe verfliegt, als sie das weiße Feld sieht – umgeben von alten Kastanien, Eichen und Platanen. Sie hat zur Abwechslung mal keine Kopfhörer in den Ohren. Einfach spazieren.

Einfach der Nacht zuhören.

Als sie an dem turmartigen Gebilde des vollgesprayten Schillerparks vorbeikommt, hört sie ein lautes Murmeln. Sind das Worte? Das Murmeln kommt wieder. Keine verständlichen Worte. Aber sie kann die Aggression, oder den Frust in der Stimme förmlich in ihrem Herzschlag nachspüren. Sie schaut in den Turm hinein.

Da guckt doch jemand! Da murmelt wieder jemand. Ist sonst noch jemand im Park?

Die ganze, große, weiße Freifläche ist einfach nur weiß. Und sie geht weiter, und das frustrierte Murmeln geht auch unbewegt von ihrer Bewegung weiter.

Als sie im nur grünen Teil des langen Parks ankommt, sieht sie ein Leuchten. Ein Blinken und Leuchten inmitten der Bäume, als wäre Kirmes. Das wirkt so unpassend, das will sie sich genauer angucken. Ein dunkel gekleideter Mann geht aus dem Haus heraus und schaut sie länger an, die sie auf das Haus zusteuert. Er nickt ihr zu. Er trägt keine Maske. Sein Mund versucht ohne Erfolg zu lächeln. Sie versucht ein Nicken zu erwidern, das so nichtig und beiläufig aussieht, dass es auch einfach nur eine Kopfbewegung im Gehen sein könnte.

Ein paar Meter entfernt von dem irrwitzig beleuchteten Gebäude, erkennt sie, dass es ein Restaurant sein muss. Mitten im Park!? Sie ist erst einmal tagsüber gewesen. Das Gebäude ist ihr nicht aufgefallen. Hat ja eh fast alles geschlossen. Gebäude machen einen Charakterwandel durch. Und Innenräume sind noch intimer geworden. Ihr eigener Innenraum fühlt sich dennoch immer noch nicht wie ihrer an. Sie fühlt sich immer noch wie auf der Durchreise. Sie würde gerne bald weiterziehen. Weg aus der Großstadt. Das ist doch kein Leben in diesen ungeduldigen Menschenmassen, die teilweise die gegebene Distanz halten und dich trotzdem nie ganz allein lassen.

Gerade zumindest fast. Wie spät ist es, dass so wenig los ist? Bei so schönem Schneefall? Sie hatte heute von ihrem Lieblingspodcast-Moderator gehört, der hätte schon die Schnauze voll vom Spazieren gehen. Das kann sie wirklich nicht nachvollziehen.

Sie hat ja auch keinen Job. Sie hätte ja einen, aber der ist auf eine un-distanziert lebende Gesellschaft ausgelegt. Die Leere, die Schwere, das permanente, durstige und müde Samstagsleben: sie werden ihr nicht zu viel. Da ist nirgendwo zu viel. Da ist zu wenig.

Da ist ein dunkler Umriss am Rande des Lichtscheins vom Restaurant. Sie geht im größer werdenden Bogen weiter. Der Umriss wird deutlicher. Es ist ein großer Hund. Oder ist es eine Statue? Die Gestalt knurrt plötzlich. Dann bellt sie reißerisch und rennt los. Doch sofort wird das Tier von einer Stahlkette zurückgehalten.

Die Person, die es verjagen wollte: Sie ist zurückgetaumelt und hockt nun im Schnee. Das Tier bellt weiter. Und ein Scheinwerfer sucht die Gegend ab. Die Taschenlampe findet sie fast, aber sie versteckt sich noch gerade hinter einer Eiche. Ihr Herz rast. Der Hund bellt weiter, die Taschenlampe wird ausgeschaltet.

Was ist das für ein Laden? Abseits der Straßen, bewacht und viel zu hell beleuchtet mitten in der Nacht?

Sie geht den weiß gemalten Weg weiter im Zwielicht zwischen den dunklen, alten Bäumen, die ihr wie erfrorene Muskeln des Bodens vorkommen. Unbemerkt von möglichen Blicken schleicht und hüpft sie von den Wegen ab über die kahlen Sträucher. Und plötzlich ist da jemand. Ein dunkler Mantel, eine dunkle Mütze, keine Maske im Gesicht. Der Mann von eben, und er läuft zentimeterdicht an ihr vorbei. Fast Gesicht an Gesicht. Sein dreckiger, nackter Mund. Seine hellen Augen scheinen sie anzuschreien und sie fällt fast hin, fängt sich aber, fokussiert jedes Detail, jeden Ast, jede potenzielle Waffe in der Umgebung, jeden potenziellen Ort zum Verstecken.

Und er geht einfach weiter. Er geht zügig Richtung Straße. Er schaut nicht zurück. Wieso schaut er nicht zurück? Sie fühlt sich wie angegriffen und ist gleichzeitig komplett verwirrt über ihre Gefühle. Sie verharrt in ihrem Bereit-Sein. Das war doch kein typisches Aufeinandertreffen! Es war ein Aus-dem-Nichts. Zufall? Neugierde?

War sie zu unaufmerksam gewesen? Hat sie genau richtig reagiert? Wenn sie gestorben wäre: Wie viele Leben hätte sie noch übrig und wo hätte sie von neuem beginnen können?

Im Spiel „INSIDE“ hast du unendlich viele Leben und startest nie weit entfernt von neuem.

Sie trabt alleine ins Laternenlicht am Rande des Parks. Niemand zu sehen. Der Schnee fällt stärker. Das Blaulicht flackert still im Hintergrund. Und wieder flackert es an ihr vorbei.

Hatte ihr das Spiel, das sie so sehr fasziniert hat, irgendetwas gegeben, was sie unendlich vermisst? Das Gefühl, dass der dunkle Weg in der langen Nacht am Ende schon noch ins Licht führt? Dass das Problem noch zu lösen ist?

Das ist natürlich eine Vereinfachung. Aber was ist keine Vereinfachung?

Nachdem sie das Spiel beendet hatte, war eine Lust auf draußen, auf Leben, auf unentdeckte Wege geweckt worden. Aber hatte sie die verheißende Dunkelheit im sicheren Spiel zu sehr fasziniert? Hat sie den Blick für die Realität verloren? Oder hatte sie da im Spiel etwas in ihr gefunden, das die Geschichten in ihr erst wieder richtig wach werden ließ? Und sie so konfrontierte mit der neuen Ideologie gefährlicher Nähe und einer feindlichen, infektiös erscheinenden Umwelt?

Sie hat trotzdem noch Lust, das Spiel anderen Leuten weiterzuempfehlen. Vielleicht schaffen es ja auch Andere, die ein oder andere versteckte Angst zu enttarnen – bevor sie entarten und ein Eigenleben beginnen.

Sie möchte nicht vor menschlicher Nähe zusammenzucken müssen – zumindest nicht in alltäglichen Situationen – und die Kontrolle über Nähe und Distanz ein vernünftiges Thema bleiben lassen. Eine Entscheidung. Und die seltene Entscheidung für Nähe auch nicht ganz vergessen.

Nach den Begegnungen mit ihren Gespenstern der Nacht ist sie sich ihren inneren Verwicklungen auf jeden Fall wieder mehr bewusst. Das Spiel bzw. die Geschichte dabei als Katalysator. Und sein ganzes Potenzial erst entfaltet in seinem Publikum.

Sie sieht sich selbst aber eher nicht als potenzielle Vollzeit-Zockerin. Ab und zu vielleicht. Es geht ihr in ihrer Erkenntnis viel mehr darum, dass sie, umgeben von Geschichten mit mehr oder weniger Regeln, selbst ihre allerwichtigste Geschichtenerzählerin ist. Und dass es, gerade jetzt in dieser kollektiven Distanzierung, sehr okay ist, dass wir uns besonders um unsere persönliche Geschichte eines Lichts am Ende der dunklen Nacht kümmern.

Der androgyne „INSIDE“-Mensch rennt mit unglaublicher Ausdauer durch die Dunkelheit voller fantastischer Ungewöhnlichkeiten. Auch der tägliche Spaziergang, Einkauf oder Weg zur Arbeit verlangt Ausdauer – immer zusammen mit dem persönlichen Kontext.

Sie hatte gefühlt schon immer Angst vor Hundegebell. Das ist wie Teil ihrer DNA seit so vielen Jahren geworden. Seit ein paar Monaten ist die unverhoffte Nähe zu Unbekannten das neue, alltägliche Trauma, von dem sie keine Ahnung hat, wie viele das auch mittragen und von dem sie auch nicht weiß, ob sie das ganz wieder loswerden wird.

Neben dem unsichtbaren Frust, der in letzter Konsequenz nachts aus einsamen Türmen schreit, ist da aber in ihr plötzlich eine wunderliche Motivation, den Winter nicht mehr nur durchhalten zu wollen, sondern eher die Erzählweise etwas umzukrempeln.

Das Innere, nicht das Ereignis oder die Nachricht(en) darüber, übernimmt wieder die Kontrolle. Sie kramt schon nach dem Haustürschlüssel, macht aber grinsend nochmal kehrt. Sie hätte fast vergessen, den Brief in den Briefkasten zu werfen.

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