vondie verantwortlichen 18.03.2020

Die Verantwortlichen

Roland Schaeffer fragt sich, warum vieles schief läuft und manches gut. Und wer dafür verantwortlich ist.

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Dass „die Politik“ nicht handeln könne, weil „die Wirtschaft“ stärker sei – dieses Märchen ist nun gründlich veraltet. Die Politik kann nicht nur handeln, sie lernt von Tag zu Tag und passt ihre Strategien an. Wir sind ZeugInnen eines beispiellosen demokratischen Experimentalismus handelnder Staaten. Sein erklärtes Ziel lautet: Tote verhindern.

In der Corona-Epidemie gelingt es dem Staat, seine BürgerInnen zu überzeugen.  Verschwörungstheoretiker aller Couleur haben kaum eine Chance. Das wurde möglich, weil er nicht als Polizist tätig geworden ist, sondern in der Rolle des Bürgerarztes auftritt. Die alte Parole des rechtsextremen Juristen Carl Schmitt, nach der „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“ – sie wird gerade ein weiteres Mal in die Tonne getreten. Souverän ist, wer gemeinsam mit den BürgerInnen und Bürgern entscheidet, dabei Gesetze einhält und gemeinsame Ziele benennt. Dieser Staat ist keine höhere Wesenheit, er steht nicht über dem Gesetz, er behält kaum Geheimnisse für sich, er hält sich an das, was WissenschaftlerInnen ihm empfehlen.

Dies ist der Grund, aus dem sich BürgerInnen und Bürger zustimmend verhalten, deshalb kommt diese Krise ohne Soldaten auf den Straßen aus. Die gesellschaftlichen Institutionen gestalten, von Ausnahmen abgesehen, selbst die optimale Umsetzung der Empfehlungen. Die Kindertagesstätten schließen, halten aber Notdienste aufrecht. Die Gaststätten machen zu, die BürgerInnen stocken im Gegenzug ihre privaten Vorräte auf (man darf darüber lachen, aber es ist nur ein vernünftiges Verhalten, für das seit vielen Jahren das Innenministerium mit guten Gründen und wenig Erfolg geworben hat). Selbst wenn viele Verhaltensmaßregeln oft genug übertreten werden, dürfen wir doch davon ausgehen, dass  sie besser eingehalten werden, als wenn staatliche Gewalt sie durchsetzen müsste. Schließlich ist die Effizienz von Diktaturen bei der Erzwingung von Gehorsam weithin ein Mythos.

Ob das politische Vorhaben der Corona-Steuerung gelingen kann, ist offen. Strategisches Ziel des lernenden Staates ist ja das Management der Ansteckung, ihre Verzögerung. Es geht also nicht darum, „gesund“ zu bleiben, obwohl so der neue Gruß lautet, von dem sowohl die GrüßerInnen als auch die Gegrüßten mehrheitlich wissen, dass er ernsthaft nur für den gegenwärtigen Augenblick gelten kann. Vielmehr sollen so viele Menschen gleichzeitig krank werden, wie das Gesundheitssystem verkraften kann. Damit nicht Menschen sterben müssen, die gut hätten geheilt werden können.

Damit ist die eigentliche Frage der kommenden Wochen benannt: Was können die Bedingungen dafür sein, dass geschlossene Einrichtungen wieder geöffnet werden? Mit welchen Gründen bleiben wir zwei Wochen oder doch zwei Monate „in Quarantäne“? Die Verantwortlichen in Politik und Medizinsystem fahren hier „auf Sicht“. Sie wissen hoffentlich etwas mehr als wir. Aber vieles können auch sie nicht wissen. Sie haben, allen in der Öffentlichkeit kursierenden Zahlen zum Trotz, nur begründete Vermutungen über das tatsächliche Ausmaß der Infektion. Also haben sie auf die Bremse getreten, obwohl sie damit rechnen müssen, dass die Stillstellung des öffentlichen Lebens mit jedem Tag, den sie dauert, schwieriger werden wird. Das bedeutet: Wo jetzt noch eine plausible Strategie für alle erkennbar scheint und die Ausbreitungsrechnungen als Begründung gelten, wird das Terrain bald mit jedem Schritt unsicherer werden. Und wenn wir jetzt am Mittwoch Maßnahmen verkündet werden, die am Freitag zuvor noch als überzogen abgelehnt wurden, wirft dieses Dilemma des tastenden Lernens seinen Schatten voraus. Trotzdem Weise vertrauen die staatlichen Institutionen darauf, dass es besser ist, die Gesellschaft nicht zu belügen.

In der Kooperation zwischen Staat und BürgerInnen muss staatliches Handeln plausibel begründet werden. Der zu verhindernde Tod vor der Zeit ist die plausible Begründung. Doch je schärfer die Maßnahmen, desto dünner wird das Eis. Wenn Ausgangssperren und Grenzschließungen suggerieren, dass absolute „Sicherheit“ von Ansteckung das Ziel sei, und nicht mehr ihr Management, dann ist die Auskunft, man wisse in 10 bis 12 Tagen, was das wochenlange Zuhause-Eingesperrtsein gebracht habe, nicht sehr befriedigend.

Es geht also – bei aller Rigidität – um Abwägungen, um Verhältnismäßigkeiten. Corona wird kein Paradies der allgemeinen Zustimmung herbeiführen, Streit ist absehbar. Kann tatsächlich der Staat, also wir alle, die wir jetzt lernen müssen, für die Verluste des Pausenmodus aufkommen – oder wäre es sinnvoller, schon jetzt einzelnen Gruppen ihren Teil zuzumuten? Immobilienbesitzer, um nur sie zu nennen, konnten in den letzten 10 Jahren teilweise Gewinne von mehreren 100 Prozent realisieren – ohne dafür irgend etwas tun zu müssen. Ist es an der Zeit, von ihnen einen Solidarbeitrag zu verlangen?

Angesichts der drohenden vorzeitigen Todesfälle sieht jede Gesellschaft nun der eigenen Verfassheit ins Gesicht und zugleich den verschiedenen Grundlagen der europäischen Gesellschaften: Die drastische Verschärfung der Maßnahmen in Deutschland hatte ihren Ausgangspunkt in Italien mit den Knappheiten seines Gesundheitssystems. Der Alarmruf der italienischen ÄrztInnen, die zwischen Hunderten beatmungsbedürftiger Patienten auswählen mussten, hat die deutsche Haltung verändert. Eine deutsche Regierung würde Bilder wie die aus Italien politisch nicht überleben – und auch die ÄrztInnen hierzulande könnten sie mit ihrem Berufsethos nicht vereinbaren. Der bis zum Dienstag noch übliche britische Weg, mit seiner Inkaufnahme vieler Toter, gilt auf dem Kontinent ohnehin als inakzeptabel. Der gesundheitspolitische Utilitarismus der Briten sieht einem Sozialrassismus allzu ähnlich, und vor dieser Realität versuchen sich nun auch die britischen Bürger verzweifelt zu schützen.

 

Foto: Neil Thomas, unsplash

Um das Hinnehmen des Sterbens von Menschen, die gut hätten leben können, geht es in dieser Krise. Tatsächlich gibt es in modernen Industriegesellschaften immer noch viele Möglichkeiten, den vorzeitigen Tod von Individuen für akzeptabel zu halten. Das gilt nicht nur für die viel zitierte Zahl der jährlichen Grippetoten, die durch Impfung leicht reduziert werden könnte. 3000 Tote jährlich im Straßenverkehr plus 13 000 vorzeitige Sterbefälle durch dessen Emissionen, fast 10 000 tödliche Haushaltsunfälle, 20.000 Tote durch Krankenhauskeime, 74 000 Tote infolge von Alkoholkonsum und 110 000 durch Rauchen sorgen nicht für einen Aufschrei und entsprechend wirksame Maßnahmen. Aber diese Akzeptanz schwindet kontinuierlich. Fast alle genannten Zahlen sind in den letzten Jahrzehnten gesunken. Außergewöhnliche Ereignisse wie eine Pandemie, in der das als „normal“ empfundene und von Staat und gesellschaftlichen Institutionen garantierte Schutzniveau in Frage gestellt wird, werden immer weniger toleriert.

Und auch der Staat oder die gesellschaftlichen Institutionen können von den eigenen BürgerInnen immer weniger erwarten, dass sie ihr Leben oder ihre Unversehrtheit opfern. Dass Beschäftigte der Kohle- oder Chemieindustrie früh starben, galt bis vor 50 Jahren als hinzunehmende Tatsache. Und Staaten konnten verlangen, dass junge Männer erst „für König und Vaterland“, dann „für Volk und Vaterland“ ihr Leben und ihre Gesundheit opferten. Allein 180.000 preußische Soldaten starben im 7-jährigen Krieg, den Friedrich der Große im 18. Jahrhundert unter anderem gegen die Sachsen, Bayern und Österreicher führte, 200 000 Männer kamen als „Invaliden“ heim in seinen 5-Millionen-Staat und zogen als Versehrte bettelnd durch die Dörfer. Die Weltkriege des letzten Jahrhunderts forderten fast hundert Millionen Tote. Im Korea-Krieg starben noch 4,5 Millionen Menschen. Aber dann erfolgte der Bruch. Für das Amerika der 60er Jahre waren 58 000 tote Amerikaner im Vietnamkrieg bereits zu viel (die Millionen getöteter VietnamesInnen wurden bis heute nicht genau gezählt). Im Afghanistan-Konflikt sind in zwölf Jahren noch 2500 US-Soldaten gestorben.

Wenn der heutige demokratische Staat in Kooperation mit der Ärzteschaft und mit seinen BürgerInnen ein garantiertes Schutzniveau aufrechterhalten will, kann er offenbar auf ihre Unterstützung setzen. Er hat, solange er nicht überzieht (ein Verdacht, der aber bei den aktuellen Grenzschließungen oder bei wochenlangem Hausarrest leicht aufkommen kann), ein extrem wirksames Instrument der sozialen Kohäsion auf seiner Seite: Das Vertrauen, das aus dem gemeinsamen Bewusstsein eines Fortschritts bei der Bewertung jedes einzelnen individuellen Lebens erwächst. Das Unversehrtheitsversprechen, das seit 1945 im Grundgesetz wie in den Menschenrechten festgehalten ist,  bedeutet ein starkes Band.

Und doch gehört, gerade deshalb, auch die Eingeschränktheit der Krisenwahrnehmung zu den fortwirkenden Irritationen. Die Gleichgültigkeit vieler gegenüber den vom Klimawandel ausgehenden Gefahren für Leib und Leben (die schon auf mittlere Sicht eine ganz andere Dimension erreichen können), ihre relative Gelassenheit angesichts des Elends der Menschen  in den Flüchtlingslagern (deren Leben auch vom Virus völlig anders bedroht ist als unsere Wohlstandsexistenzen) – sie passen nicht zu dem erhofften Fortschritt beim Umgang mit individuellen Schicksalen und Menschenleben.

Einstweilen versuchen wir als Gesellschaft unser Bestes, damit die Schwächsten im eigenen Land möglichst gut vor der Virus-Epidemie geschützt werden, und zu den Schwächsten zählen viele Millionen. Nein, das ist nicht wenig. Und das Lernen hat ja erst begonnen.

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