vonErnst Volland 24.08.2006

Vollands Blog

Normalerweise zeichnet, schneidet, klebt Ernst Volland, oder macht Bücher. Hier erzählt er Geschichten.

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Newcastle                                                                                 

 

 

 

In den Sommerferien wollte ich nach England fahren. Für die

Kosten der Fahrt jobbte ich an Nachmittagen bei

einem Versorgungsschiff, das die großen Öltanker, die draußen

vor Reede liegen, mit Proviant versorgt, bis sie zum Löschen

an die Pier können. Das kleine Versorgungsschiff bringt nicht

nur Kisten mit Obst und Backwaren, auch Ersatzteile, Taue

und kleine Geräte. Die Arbeit ist hart und muss schnell gehen,

manchmal bekommt man eine Stange Camel oder Chesterfield auf dem

großen Tanker in die Hand gedrückt, ohne das Weihnachten ist.

Es ist das Jahr 66 und London  die heißeste Stadt des Kontinents.

Aber nicht die Musik, Beatles Stones, Yardbirds ziehen mich

nach London, nicht Fish and Chips  und auch nicht die

Mode, Kunst oder die Möglichkeit, leicht an Gras zu kommen.

Ich war in ein Mädchen verliebt, mit dem schönen Namen

Ursula und diese lebte und arbeitete für ein Jahr

in England, im Norden Englands, genauer in New Castle.

Sie hatte ihre Vorbereitungen als Aux- pair -Girl schon lange

getroffen, der Standort war ausgemacht und die Reise

gebucht, als wir uns in einem Club „Zur Nordsee“ trafen- Liebe auf

den ersten Blick.

Zwei Wochen später war sie weg und schon lagen drei Briefe

von ihr unter meinem Kopfkissen. Es ging ihr nicht gut.

Sie hatte Schwierigkeiten mit ihrer Gastfamilie und zusätzlich

grenzenloses Heimweh.

Eine Woche vor den Sommerferien schwänzte ich die Schule

und arbeitete jeden Tag auf den Versorgungsschiffen.

Am dritten Tag in dieser letzten Woche passierte es dann.

Wir lagen noch im Hafen. Auf einer Rampe

rutschten die zu verladenen Frachtstücke von der Kaimauer ins

Boot, als sich plötzlich eine große grüne Glasgallone verdreht

und das Glas zerspringt. Ich sehe, wie meine

Hand stark blutet und höre Schreie.

„Achtung, das ist gefährliches Zeug. Vorsicht, fernhalten.

Das ist Säure.“

Wie angewurzelt starrte ich auf mein Blut. 

„Der muss ganz schnell ins Krankenhaus, einen Krankenwagen. Ruft

einen Krankenwagen an.“

Ich zog mich an der Kaimauer hoch. Die anderen Arbeiter standen

um mich rum.

Ein Autofahrer schaute aus seinem VW.

„Hallo, der muss sofort ins Krankenhaus, bringen Sie den ins Krankenhaus.“

„Der blutet wie ne Sau, der macht mir mein Polster kaputt, ne…. Tschüss.“

Es kommt ein Krankenwagen. Er fährt fast bis zum

Schiff und bleibt fünfzig Meter davor stehen.

Motorschaden.

Endlich sitze ich in einem anderen VW und werde ins Krankenhaus gefahren.

Meine Beine brennen.

Volle sieben Wochen verbringe ich in einem Krankenzimmer.

Bitter für mich ist, dass von den sieben Wochen sechs Wochen

große Sommerferien sind. Die Verwundung sah anfangs nicht

gut aus. In der Gallone befand sich Schwefelsäure, die eine stark

ätzende Wirkung hat und tief in die Haut eindringen kann und

sogar Knochengewebe beschädigt. Ich hatte Glück, die anfängliche

Vermutung der Ärzte, einen Fuß zu amputieren, bestätigte sich nicht.

Ich machte neue Reisepläne und verschob meinen Besuch nach

Newcastle auf die Herbstferien.

Die Reise ging nach London und von dort mit dem Bus nach

Newcastle. Es war ein kalter Spät- Oktober Tag als ich

abends nach einem langen Tag eine Pension in Newcastle suchte.

Am nächsten Morgen klopfte ich an die Tür

in der Green-Street. Dort arbeitete meine Freundin, die mir

inzwischen dreiundzwanzig Briefe geschrieben hatte.

Eine mir nicht bekannte Frau öffnete die Tür. Ich hatte

Ursula erwartet.

„Hallo, ich bin der Besuch aus Deutschland, ist Ursula da?“

„Sie ist da, aber sie hat keine Zeit. Auf Wiedersehen.“

Die Frau schloss die Tür.

Ich klingelte ein zweites Mal.

Ohne auf eine Frage zu antworten, sagte die Frau.

„Ich habe Ihnen doch schon gesagt, sie hat keine

Zeit und es lohnt sich auch nicht zu warten.“

Ursula hatte mir in den Briefen schon angedeutet, dass sie

rund um die Uhr in dieser 5-köpfigen Familie arbeiten

musste. Die Kinder waren noch klein und die Regeln der

Aux-Pair- Foundation weit entfernt. Es war bekannt, dass

es zu „himmelschreienden Ausbeutungen“ in einzelnen

Familien gekommen war, aber ich konnte mir nicht

vorstellten, dass es nicht möglich war, sich nach

einer so langen Reise kurz begrüßen zu dürfen.

Konsterniert drückte ich ein drittes Mal

auf die Klingel . Mein Daumen verharrte auf

dem Knopf, bis sich die Tür öffnete.

„Du dummer Kerl, verschwinde, oder ich hole

die Polizei. Runter von meinem Grundstück.

Dort unten an der Straße kannst du dich hinstellen und schreien.“

War der zweite Weltkrieg noch nicht zu Ende? War Ursula in

englischer Gefangenschaft? dachte ich und ging

auf die andere Seite der Straße. Im gegenüberliegenden

Haus klingelte ich und fragte höflich, ob die Familie bei der Ursula

arbeitete, bekannt sei. Man antwortete mir freundlich, konnte mir

aber  in meiner Angelegenheit nicht helfen. Eine junge deutsche Frau

wohne dort, sicherlich, ja, leider habe man sie noch nie gesehen.

 

In meiner Pension, im Zentrum der Stadt, legte ich mich auf mein

Bett und dachte nach. Ich wählte die Nummer der Familie.

Nicht Ursula war am Telefon, ich hatte die Frau in der Leitung, die mir

wie aus der Pistole geschossen sagte.

„Ich wusste, Sie rufen an. Ich habe mit Ursula gesprochen, Mittwoch

Nachmittag können Sie sie sehen, für eine Stunde.

Aber holen Sie sie nicht ab!

Sie wird sich mit ihnen in der Stadt treffen.“

Mittwoch Nachmittag, das war erst in drei Tagen, und nur für

eine Stunde. Die Zimmerdecke starrte mich an.

Ich lag hier tausend Kilometer entfernt von meinem Wohnort in einer

billigen Pension mit Außentoilette, draußen war es schon fast Winter,

und ich bekam das Angebot, in drei Tagen für eine Stunde mit

meiner großen Liebe zu sprechen?

In Newcastle liefen fast alle Leute mit Rucksäcken herum; viele Fahrradfahrer,

wenig Autos. Jeden Tag ging ich in einen Park, trottete an Schaufestern

entlang, besuchte Kirchen. Endlich war es Mittwoch Nachmittag.

Ursula kam in die Pension und weinte eine Stunde.

Sie wollte nicht in der Familie bleiben, aber sie wollte auch nicht

zu ihren Eltern zurück.

„Du fährst übermorgen. Ich darf dich zum Busbahnhof bringen.

Sonst habe ich keinen Ausgang. Es tut mir leid.“

Ich ging in den Park spazieren, sah zwei andere Kirchen und kam mit

einigen Leuten ins Gespräch.

Am Tag der Abreise begleitete mich Ursula zum Busbahnhof.

Sie weinte und beinahe hätte ich auch geweint.

Ich versuchte sie zu überreden, gleich mitzukommen. Sie lehnte ab.

Der Bus hatte Verspätung und wir gingen in das einzige Cafe am

Busbahnhof. Weinend verabschiedete sie sich und ich bestieg allein 

den Bus und fuhr nach London.

Ursula blieb noch etwas sitzen. Ein Mann sprach sie an

und setzte sich zu ihr. Ein Jahr später haben sie geheiratet..

 

 

 

 

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