Newcastle
In den Sommerferien wollte ich nach England fahren. Für die
Kosten der Fahrt jobbte ich an Nachmittagen bei
einem Versorgungsschiff, das die großen Öltanker, die draußen
vor Reede liegen, mit Proviant versorgt, bis sie zum Löschen
an die Pier können. Das kleine Versorgungsschiff bringt nicht
nur Kisten mit Obst und Backwaren, auch Ersatzteile, Taue
und kleine Geräte. Die Arbeit ist hart und muss schnell gehen,
manchmal bekommt man eine Stange Camel oder Chesterfield auf dem
großen Tanker in die Hand gedrückt, ohne das Weihnachten ist.
Es ist das Jahr 66 und London die heißeste Stadt des Kontinents.
Aber nicht die Musik, Beatles Stones, Yardbirds ziehen mich
nach London, nicht Fish and Chips und auch nicht die
Mode, Kunst oder die Möglichkeit, leicht an Gras zu kommen.
Ich war in ein Mädchen verliebt, mit dem schönen Namen
Ursula und diese lebte und arbeitete für ein Jahr
in England, im Norden Englands, genauer in New Castle.
Sie hatte ihre Vorbereitungen als Aux- pair -Girl schon lange
getroffen, der Standort war ausgemacht und die Reise
gebucht, als wir uns in einem Club „Zur Nordsee“ trafen- Liebe auf
den ersten Blick.
Zwei Wochen später war sie weg und schon lagen drei Briefe
von ihr unter meinem Kopfkissen. Es ging ihr nicht gut.
Sie hatte Schwierigkeiten mit ihrer Gastfamilie und zusätzlich
grenzenloses Heimweh.
Eine Woche vor den Sommerferien schwänzte ich die Schule
und arbeitete jeden Tag auf den Versorgungsschiffen.
Am dritten Tag in dieser letzten Woche passierte es dann.
Wir lagen noch im Hafen. Auf einer Rampe
rutschten die zu verladenen Frachtstücke von der Kaimauer ins
Boot, als sich plötzlich eine große grüne Glasgallone verdreht
und das Glas zerspringt. Ich sehe, wie meine
Hand stark blutet und höre Schreie.
„Achtung, das ist gefährliches Zeug. Vorsicht, fernhalten.
Das ist Säure.“
Wie angewurzelt starrte ich auf mein Blut.
„Der muss ganz schnell ins Krankenhaus, einen Krankenwagen. Ruft
einen Krankenwagen an.“
Ich zog mich an der Kaimauer hoch. Die anderen Arbeiter standen
um mich rum.
Ein Autofahrer schaute aus seinem VW.
„Hallo, der muss sofort ins Krankenhaus, bringen Sie den ins Krankenhaus.“
„Der blutet wie ne Sau, der macht mir mein Polster kaputt, ne…. Tschüss.“
Es kommt ein Krankenwagen. Er fährt fast bis zum
Schiff und bleibt fünfzig Meter davor stehen.
Motorschaden.
Endlich sitze ich in einem anderen VW und werde ins Krankenhaus gefahren.
Meine Beine brennen.
Volle sieben Wochen verbringe ich in einem Krankenzimmer.
Bitter für mich ist, dass von den sieben Wochen sechs Wochen
große Sommerferien sind. Die Verwundung sah anfangs nicht
gut aus. In der Gallone befand sich Schwefelsäure, die eine stark
ätzende Wirkung hat und tief in die Haut eindringen kann und
sogar Knochengewebe beschädigt. Ich hatte Glück, die anfängliche
Vermutung der Ärzte, einen Fuß zu amputieren, bestätigte sich nicht.
Ich machte neue Reisepläne und verschob meinen Besuch nach
Newcastle auf die Herbstferien.
Die Reise ging nach London und von dort mit dem Bus nach
Newcastle. Es war ein kalter Spät- Oktober Tag als ich
abends nach einem langen Tag eine Pension in Newcastle suchte.
Am nächsten Morgen klopfte ich an die Tür
in der Green-Street. Dort arbeitete meine Freundin, die mir
inzwischen dreiundzwanzig Briefe geschrieben hatte.
Eine mir nicht bekannte Frau öffnete die Tür. Ich hatte
Ursula erwartet.
„Hallo, ich bin der Besuch aus Deutschland, ist Ursula da?“
„Sie ist da, aber sie hat keine Zeit. Auf Wiedersehen.“
Die Frau schloss die Tür.
Ich klingelte ein zweites Mal.
Ohne auf eine Frage zu antworten, sagte die Frau.
„Ich habe Ihnen doch schon gesagt, sie hat keine
Zeit und es lohnt sich auch nicht zu warten.“
Ursula hatte mir in den Briefen schon angedeutet, dass sie
rund um die Uhr in dieser 5-köpfigen Familie arbeiten
musste. Die Kinder waren noch klein und die Regeln der
Aux-Pair- Foundation weit entfernt. Es war bekannt, dass
es zu „himmelschreienden Ausbeutungen“ in einzelnen
Familien gekommen war, aber ich konnte mir nicht
vorstellten, dass es nicht möglich war, sich nach
einer so langen Reise kurz begrüßen zu dürfen.
Konsterniert drückte ich ein drittes Mal
auf die Klingel . Mein Daumen verharrte auf
dem Knopf, bis sich die Tür öffnete.
„Du dummer Kerl, verschwinde, oder ich hole
die Polizei. Runter von meinem Grundstück.
Dort unten an der Straße kannst du dich hinstellen und schreien.“
War der zweite Weltkrieg noch nicht zu Ende? War Ursula in
englischer Gefangenschaft? dachte ich und ging
auf die andere Seite der Straße. Im gegenüberliegenden
Haus klingelte ich und fragte höflich, ob die Familie bei der Ursula
arbeitete, bekannt sei. Man antwortete mir freundlich, konnte mir
aber in meiner Angelegenheit nicht helfen. Eine junge deutsche Frau
wohne dort, sicherlich, ja, leider habe man sie noch nie gesehen.
In meiner Pension, im Zentrum der Stadt, legte ich mich auf mein
Bett und dachte nach. Ich wählte die Nummer der Familie.
Nicht Ursula war am Telefon, ich hatte die Frau in der Leitung, die mir
wie aus der Pistole geschossen sagte.
„Ich wusste, Sie rufen an. Ich habe mit Ursula gesprochen, Mittwoch
Nachmittag können Sie sie sehen, für eine Stunde.
Aber holen Sie sie nicht ab!
Sie wird sich mit ihnen in der Stadt treffen.“
Mittwoch Nachmittag, das war erst in drei Tagen, und nur für
eine Stunde. Die Zimmerdecke starrte mich an.
Ich lag hier tausend Kilometer entfernt von meinem Wohnort in einer
billigen Pension mit Außentoilette, draußen war es schon fast Winter,
und ich bekam das Angebot, in drei Tagen für eine Stunde mit
meiner großen Liebe zu sprechen?
In Newcastle liefen fast alle Leute mit Rucksäcken herum; viele Fahrradfahrer,
wenig Autos. Jeden Tag ging ich in einen Park, trottete an Schaufestern
entlang, besuchte Kirchen. Endlich war es Mittwoch Nachmittag.
Ursula kam in die Pension und weinte eine Stunde.
Sie wollte nicht in der Familie bleiben, aber sie wollte auch nicht
zu ihren Eltern zurück.
„Du fährst übermorgen. Ich darf dich zum Busbahnhof bringen.
Sonst habe ich keinen Ausgang. Es tut mir leid.“
Ich ging in den Park spazieren, sah zwei andere Kirchen und kam mit
einigen Leuten ins Gespräch.
Am Tag der Abreise begleitete mich Ursula zum Busbahnhof.
Sie weinte und beinahe hätte ich auch geweint.
Ich versuchte sie zu überreden, gleich mitzukommen. Sie lehnte ab.
Der Bus hatte Verspätung und wir gingen in das einzige Cafe am
Busbahnhof. Weinend verabschiedete sie sich und ich bestieg allein
den Bus und fuhr nach London.
Ursula blieb noch etwas sitzen. Ein Mann sprach sie an
und setzte sich zu ihr. Ein Jahr später haben sie geheiratet..